Bilderbogen gelten als ein Massenmedium des 19. Jahrhunderts. Die Bogen dienten sowohl der Information als auch der Unterhaltung einer breiten Bevölkerung. Dabei waren sie auch Spiegel und Produzent von populärem Kolonialrassismus.
Bei einem Bilderbogen handelt es sich um ein einseitig bedrucktes Blatt Papier, meist im Maß von 36 × 43 cm. Die Bogen hatten unterschiedliche Funktionen. Sie konnten belehrend über das aktuelle Kriegsgeschehen berichten, aber auch unterhaltend sein. Durch die preisgünstige Herstellung in Massenproduktion und die einfache Bildsprache waren Bilderbogen in allen Bevölkerungsschichten beliebt. Sie gelten heute als frühes Massenmedium.
Die Stiftung Stadtmuseum Berlin besitzt eine Sammlung von etwa 6.000 Bilderbogen.
Schon früh sammelte das Märkische Museum, das heute zur Stiftung Stadtmuseum Berlin gehört, diese wichtigen Zeitdokumente. Zuletzt wurde die Sammlung 2022 durch die Schenkung von 1.500 Bilderbogen aus der Sammlung des Bilderbogenforschers und Papiertheaterspielers Rüdiger Koch erweitert. Rüdiger Koch stand seit 1999 der Stiftung Stadtmuseum Berlin stets beratend und mit innovativen Ideen zur Seite. Mit seiner Schenkung war der Wunsch verbunden, die Bilderbogen einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Dies war der Anstoß für das im folgenden vorgestellten Projekt “Massenmedium Bilderbogen: Repräsentant des Kolonialen Archivs. Erprobung dekolonialer Digitalisierungsstrategien”, das 2024 im Förderprogramm „Digitalisierung von Objekten des kulturellen Erbes des Landes Berlin“ durch das Land Berlin finanziert und vom Forschungs- und Kompetenzzentrum Digitalisierung Berlin (digiS) betreut wurde.
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Die Ziele | Die Bilderbogen werden nicht nur in den Online-Datenbanken Sammlung Online des Stadtmuseums Berlin, der Deutschen Digitalen Bibliothek (DDB) und Europeana veröffentlicht, sondern auch bei Wikidata und Wiki Commons. Zudem wird in dem Projekt vertieft der Frage nachgegangen, wie Objekte, die kolonialrassistische Kontexte adressieren, aus einer dekolonialen Perspektive erschlossen, beschrieben, kontextualisiert und veröffentlicht werden können. |
Das Vorgehen | Eine Auswahl von 500 Bilderbogen wurde erfasst und digitalisiert. Bei rund 70 Bilderbogen identifizierte das Team kolonialrassistische Inhalte. Diese hat das Team vertieft aufgearbeitet. In Zusammenarbeit mit der Agentur Visual Intelligence wurden visuelle Strategien für die Präsentation dieser Bilderbogen entwickelt. Außerdem konzipierte Visual Intelligence für das Stadtmuseum Berlin den „polyscope editor“ als Erweiterung der museumseigenen Datenbank. |
Das Team | |
Die Beratung | Die Kompetenzstelle DeKolonisierung und das Modellprojekt „Dekoloniale. Erinnerungskultur in der Stadt“, Kooperationspartner des Stadtmuseums Berlin, haben das Projekt fortlaufend beraten. |
Die Dokumentation | In einer filmischen Dokumentation und an ausgewählten Beispielobjekten stellt das Team in dieser Online-Präsentation seine Arbeit beispielhaft vor. |
Ziel von musealen Digitalisierungsprojekten ist es, eine bestimmte Anzahl an Objekten zu digitalisieren und in einer Museumdatenbank zu erfassen. Anschließend werden die Datensätze einschließlich der Digitalisate, also Abbildungen der Objekte, öffentlich gemacht. Dahinter steht die Idee der Öffnung und Zugänglichmachung von Archiven und Sammlungen für ein breites Publikum. Allerdings hat eine Open-Access-Leitlinie immer auch Grenzen. Es kann unterschiedliche Gründe geben, weswegen ein Datensatz nur teilweise veröffentlicht wird oder ein Digitalisat nicht gezeigt wird. So können rechtliche Hürden bestehen, technische Voraussetzungen eine Verfügbarmachung erschweren oder ethische Bedenken existieren.
In diesem Projekt lag ein besonderes Augenmerk auf Objekten, die kolonialrassistische Kontexte adressieren.
Um im Projekt den Blick für Rassismus zu schärfen, war ein wichtiger Meilenstein ein dreitägiges Anti-Rassismus-Training des Vereins Phoenix e.V., das sich an Mitarbeitende der Sammlung des Stadtmuseums richtete und im Frühjahr 2024 stattgefunden hat.
Die rassismuskritische Arbeit an den rund siebzig Bilderbogen, die kolonialrassistische Kontexte adressieren, umfasste sowohl die Ebene des Texts als auch der Umgang mit dem Objekt selbst bzw. seiner Abbildung.
In den Texten zu den Objekten hat das Projektteam den jeweiligen kolonialen Kontext herausgearbeitet und kontextualisiert. Es hat versucht, den kolonialen, rassistischen, exotisierenden, orientalisierenden oder in anderer Weise stereotypisierenden und diskriminierenden Gehalt der Bildinhalte zu dechiffrieren und zu analysieren.
„This is why the word must be crossed out. It is not effaced, but remains legible beneath the line. That is the only way to indicate that it is both necessary and impossible - necessary in order to say what bust be said, and impossible because it is not accurate or adequate.“ Jacques Derrida, Positions, trans. Alan Bas, University of Chicago Press, 1981, S. 20.
In diesem Projekt hat das Team sich dafür entschieden, kolonialrassistische Begriffe zu „irritieren“. Hierfür nutzt das Team zwei Strategien.
Manche Begriffe, darunter koloniale Ortsbezeichnungen (so z.B. Deutsch-Südwestafrika oder Kiautschou) oder auch koloniale Benennungen (so z.B. Boxer), werden durchgestrichen. Ebenfalls wird beispielsweise der Begriff Plantage durchgestrichen. Denn dieser ist historisch aufs engste mit dem Versklavungshandel, Kolonialismus, Rassismus, Ausbeutung, Gewalt und Tod verknüpft.
Einzelne rassistische Begriffe, mit denen Menschen in extremer Form abgewertet werden, werden nicht ausgeschrieben. So verwendet das Team beispielsweise die Schreibweise N-Wort und M-Wort.
Was den Umgang mit der Bild-Ebene angeht, so hat das Projektteam jeden Bilderbogen kritisch geprüft, diskutiert und ausgehend hiervon entsprechende Strategien des Umgangs entwickelt.
Für dieses Projekt wurden folgende Entscheidungen getroffen: Einzelne Bilderbogen hat das Team teilweise oder ganz „irritiert“. Der jeweilige Bilderbogen ist online nur in dieser Form sichtbar. Dies ist mit der Information verbunden, dass das originale Digitalisat beim Stadtmuseum Berlin angefragt werden kann.
Nach welchen Kriterien hat das Projektteam entschieden, welche Bilderbogen „irritiert“ werden?
Teilweise oder ganz wurden Bilderbogen „irritiert“, die: explizit koloniale Gewalt reproduzieren, BIPoC in herabwürdigender und karikierender Art und Weise darstellen, rassistische Begriffe auf Objekt-Ebene beinhalten, Schwarze Menschen als Dienende bzw. Versklavte darstellen, ausgenommen es handelt sich um die Repräsentation realer Personen.
In der Praxis war die Entscheidung, ob ein Bilderbogen „irritiert“ werden sollte, nicht immer einfach. Das Team hat hierbei den Anspruch gehabt, informiert und reflektiert zu arbeiten. Allgemein gesprochen stehen aber hinter jeder Entscheidung immer konkrete Menschen, die den Anspruch haben mögen, objektiv zu urteilen. Doch ist zwangsläufig jede Entscheidung bis zu einem gewissen Grad subjektiv. Dies gilt es auszuhalten und transparent zu machen.
Handlungsleitend für die getroffenen Entscheidungen waren zwei Punkte: Zum einen können kolonialrassistische Inhalte für Schwarze Menschen, Indigene Menschen und People of Colour (BIPoC) verletzend und (re-)traumatisierend sein. Aus Sicht des Projektteams hat eine museale Institution eine ethische und politische Verantwortung, dem aktiv entgegenzuwirken bzw. etwas entgegenzusetzen. Zum anderen geht das Team davon aus, dass die ungefilterte, immer wieder stattfindende Reproduktion rassistischer Begriffe und Bilder bspw. im Internet historisch gewachsene, unbewusst verankerte rassistische Vorurteile innerhalb einer weißen Mehrheitsgesellschaft reaktiviert und damit verfestigt.
Alle Entscheidungen wurden im Rahmen dieses Projekts (zunächst nur) für dieses Projekt gefällt. In diesem Rahmen bot sich dem Team die Chance, rassismuskritische Strategien des Umgangs mit kolonialrassistischen Objekten beispielhaft zu erarbeiten und zu erproben und mit einer breiten Öffentlichkeit zu teilen. Damit möchte das Projektteam einen Beitrag zur Diskussion über dekoloniale und rassismuskritische Museumsarbeit leisten und freut sich auf produktiven Austausch jetzt und in Zukunft!
In den Jahren 2021 bis 2025 war das Stadtmuseum Berlin Kooperationspartner im Modellprojekt „Dekoloniale Erinnerungskultur in der Stadt“.
Im Projekt „Dekoloniale“, das in enger Zusammenarbeit mit der Design-Agentur Visual Intelligence umgesetzt wurde, war es etablierter Standard, in der oben beschriebenen Art und Weise mit kolonialrassistischen Begriffen und Bildern umzugehen. Dahinter steht der Gedanke, auf den (Kolonial-)Rassismus, den Sprach- und Bildwelten transportieren, hinzuweisen und dazu anzuregen, sich hiermit kritisch zu beschäftigen.
Das Projekt "Massenmedium Bilderbogen" hat konzeptionell hieran angeknüpft.
Für das Projekt „Massenmedium Bilderbogen“ hat das Berliner Studio für Informationsdesign, Visual Intelligence, ein Konzept für einen „polyscope editor“ entwickelt. Dieser soll in der Arbeit mit musealen Objekten als Instrument zur Analyse und Kontextualisierung fungieren. Der Editor soll es den Nutzer:innen ermöglichen, unterschiedliche Lesarten eines Objekts zu erkunden.
Dafür wurden gemeinsam mit dem Projektteam fünf verschiedene Bearbeitungstools identifiziert und an zehn Bilderbogen exemplarisch auf ihre Machbarkeit erprobt. Die Tools „Markieren“, „Hervorheben“, „Transformieren“, „Verknüpfen“ und „Irritieren“ dienen einer multiperspektivischen Auseinandersetzung mit den Objekten und ihren Reproduktionen, um sie der Öffentlichkeit im Sinne der Ziele und Strategien des Stadtmuseums Berlin verfügbar zu machen.
Das Projektteam wendet in dieser Online-Präsentation am Beispiel von zehn Objekten die für den „polyscope editor“ konzipierte Herangehensweise an.
Die Tools des „polyscope editor“
Jeder Bilderbogen wird systematisch beschrieben, analysiert und kontextualisiert. Hierbei werden immer wieder neue Blicke auf das Objekt gerichtet. Da in diesem Projekt Objekte im Fokus stehen, die kolonialrassistische Kontexte adressieren, ist die Möglichkeit zu „irritieren“ hier von besonderer Bedeutung. Beim Verknüpfen mit anderen Objekten liegt weiterhin ein besonderes Augenmerk darauf, kolonialrassistischen Inhalten Perspektiven von Widerstand und Empowerment entgegenzusetzen.
Eine Weiterentwicklung des Konzepts und die Realisierung von „polyscope editor“ ist angedacht.
Dieser Bilderbogen zeigt kolonialrassistische Inhalte. Diese sind menschenverachtend und können für Schwarze Menschen, Indigene Menschen und People of Colour (BIPoC) verletzend und (re-)traumatisierend sein.
„Die Paukenbuben.“ und „Die Tintenknaben.“, Neuruppin, 1850-1925
Titel | Vier Bildergeschichten: zwei ohne Titel, „Die Paukenbuben.“ und „Die Tintenknaben.“ |
Sammlung | Bilderbogen |
Hersteller | Druck und Verlag Gustav Kühn |
Herstellungsort und Datum | Neuruppin, 1850-1925 |
Material und Technik | Papier, Drucktechniken |
Maße | 34 x 42 cm |
Inventarnummer | SM 2022-02881,0249 |
Schlagworte | Rassismus, Kolonialismus, Druckgrafik, Pädagogik |
„Die Paukenbuben.“ und „Die Tintenknaben.“, Neuruppin, 1850-1925
Der Bilderbogen zeigt vier Bildergeschichten, in denen Männer Kindern durch gewaltvolle Handlungen ‚erzieherische‘ Lektionen erteilen.
Im Folgenden liegt der Fokus auf der Geschichte „Die Tintenknaben“. Diese besteht aus vier Bildern, die je von einem zweizeiligen Text begleitet werden. Es wird erzählt, wie zwei Kinder, bezeichnet als „die bösesten Buben der Stadt“, einen „Notar“ ärgern und zur Strafe in ein Tintenfass getaucht werden. Als sie aus dem übergroßen Tintenfass aussteigen und überzogen sind von schwarzer Tinte, werden sie als „nichtsnutzige, kleine M.“ bezeichnet.
„Die Paukenbuben.“ und „Die Tintenknaben.“, Neuruppin, 1850-1925
Die rassistische Botschaft der Geschichte „Die Tintenknaben“ lautet, dass Schwarz-Sein eine Strafe und etwas Schlechtes ist. Diese Botschaft wird noch unterstrichen durch die Kombination des rassistischen M-Worts mit dem negativ konnotierten Attribut „nichtsnutzig“.
„Die Paukenbuben.“ und „Die Tintenknaben.“, Neuruppin, 1850-1925
Die Bildergeschichte geht auf die „Geschichte von den schwarzen Buben“ aus dem Kinderbuch „Der Struwwelpeter“ (1845) von Heinrich Hoffmann (1809-1894) zurück.
In dieser Erzählung verspotten drei weiße Jungen einen Schwarzen Jungen, hier auch mit dem M-Wort bezeichnet, auf Grund seiner Hautfarbe. Die Kinder werden, wie in „Die Tintenknaben“, zur Strafe für ihr Verhalten in ein Tintenfass gesteckt. Der weiße Erwachsene, der diese Strafe vollstreckt, begründet dies damit, dass der Schwarze Junge, der anders als seine weißen Peiniger, die mit individuellen Vornamen versehen sind, namenlos bleibt, ja nichts für sein Schwarz-Sein könne.
Was zunächst wie eine Kritik am rassistischen Verhalten der beiden weißen Jungen erscheinen könnte, bestätigt schlussendlich das rassistische Vorurteil.
Schwarz-Sein wird auch hier als Makel betrachtet.
Darüber hinaus werden die beiden weißen Jungen durch das Eintauchen ins Tintenfass nunmehr, so die Erzählung, sogar schwärzer als der Schwarze Junge, was als besondere harte Strafe zu bewerten sei. Hier wird das Schwarz-Sein als Makel also noch einmal auf die Spitze getrieben.
Das M-Wort im öffentlichen Raum in Deutschland (v.l.n.r.: Bamberg, Fürth, Halle (Saale), Erfurt, Nördlingen); „Die Paukenbuben.“ und „Die Tintenknaben.“, Neuruppin, 1850-1925
Das M-Wort ist ein rassistischer Begriff, mit dem Schwarze Menschen abgewertet werden.
Er leitet sich vom altgriechischen Wort „mauros“ ab, das übersetzt „schwarz“, „geschwärzt“ oder „verkohlt“ bedeutet. Auch wenn das M-Wort im Laufe der Geschichte verschiedene Bedeutungsverschiebungen erfahren hat und sich im Wandel der Zeit auf wechselnde Personengruppen und geographische Räume beziehen konnte, so blieb eines gleich: Der Begriff war immer abwertend gegenüber dem:der „Anderen“ gemeint, der:die nicht weiß war.
Im Deutschen ist das M-Wort die älteste Bezeichnung, mit der weiße Menschen Schwarze Menschen markiert haben. Vom 17. bis 19. Jahrhundert bezeichneten deutschsprachige weiße Menschen diejenigen BIPoC-Personen als M., die von Europäer:innen versklavt und verschleppt wurden und fortan für Adelige und auch zunehmend reiche Vertreter:innen des Bürgertums innerhalb des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation arbeiten mussten.
Mit dem M-Wort war und ist zugleich die rassistische Vorstellung verknüpft, dass als solche markierte Personen zum Dienen geboren seien, was sich seit der Frühen Neuzeit an zahlreichen bildlichen und textlichen Darstellungen ablesen lässt.
Das M-Wort ist trotz seines rassistischen Gehalts weiterhin in städtischen Räumen bundesweit präsent.
M-Straßenfest 2018 in Berlin; „Die Paukenbuben.“ und „Die Tintenknaben.“, Neuruppin, 1850-1925
In Berlin ist das M-Wort besonders prominent vertreten mit der M-Straße, nach der ein U-Bahnhof auf der Linie 2 benannt ist.
Zwar beschloss die Bezirksverordnetenversammlung Mitte von Berlin (BVV) 2020 nach jahrzehntelangen Kämpfen dekolonialer Aktivist:innen die Umbenennung der M-Straße in Anton-Wilhelm-Amo-Straße. Die Umsetzung des Beschlusses und damit die Würdigung des ersten, bekanntermaßen in Deutschland wirkenden Schwarzen Philosophen lässt allerdings noch auf sich warten.
Arndt, Susan, Rassistisches Erbe. Wie wir mit der kolonialen Vergangenheit unserer Sprache umgehen, Berlin 2022.
Nduka-Agwu, Adibeli et al. (Hg.), Rassismus auf gut Deutsch. Ein kritisches Nachschlagewerk zu rassistischen Sprachhandlungen, Frankfurt a. M. 2010.
Einführung, Straßen umbenennen jetzt! Dekolonisierung als Demokratisierung des öffentlichen Raumes
Banane (Musa paradisiaca.), Deutschland, um 1900
Titel | „Banane (Musa paradisiaca.)“ |
Sammlung | Bilderbogen |
Hersteller | unbekannt |
Herstellerort und Datum | Deutschland, um 1900 |
Material und Technik | Papier, Drucktechniken |
Maße | 42,8 x 36 cm |
Inventarnummer | SM 2022-02881,0009 |
Schlagworte | Banane, Botanik, Druckgrafik, Kolonialismus, |
Banane (Musa paradisiaca.), Deutschland, um 1900
Dieser Bilderbogen, der wohl um 1900 entstanden ist, zeigt eine botanische Illustration der Banane, auf Latein: „Musa paradisiaca“.
Die Banane, bzw. ihre Bestandteile, werden hier isoliert und ohne ihre botanische Umgebung dargestellt. Die zentral positionierte Bananenpflanze wird von mehreren herausgehobenen Einzel-Illustrationen gerahmt, die Details zeigen, beispielsweise eine einzelne Banane. Die Beschriftung gibt Aufschluss über die verschiedenen Bild-Elemente.
Hans Baluschek, Vergnügungspark, Hasenheide [Berlin], 1895; Banane (Musa paradisiaca.), Deutschland, um 1900
Hier zu sehen ist eine Handzeichnung des Berliner Künstlers Hans Baluschek (1870-1935). Vorne rechts im Bild isst ein Junge eine Banane. Diese war Ende des 19. Jahrhunderts in Berlin noch wenig erhältlich.
Als um 1900 dieser Bilderbogen mit der botanischen Zeichnung einer Bananenpflanze und ihrer Bestandteile veröffentlicht wurde, hatten vermutlich nur wenige Berliner:innen schon einmal eine echte Banane gegessen. Die Einfuhr von Bananen nach Deutschland hatte erst wenige Jahre zuvor begonnen. Die Banane gehörte zu den Südfrüchten, die ab der Jahrhundertwende verstärkt Eingang in das Angebot von Kolonialwarenläden fanden.
Friedrich Vieweg u. Sohn, Braunschweig, Ausländische Culturpflanzen, Gemeine Banane, Ende 19. Jahrhundert; Banane (Musa paradisiaca.), Deutschland, um 1900
Auch für Schulwandtafeln wurden im ausgehenden 19. Jahrhundert und darüber hinaus botanische Illustrationen verwendet.
Diese botanische Illustration einer Banane diente in bürgerlichen Haushalten in Berlin und darüber hinaus als gelehrsames Anschauungsmaterial und fand Verwendung im Schulunterricht.
Sie gab Auskunft über die äußere Gestalt der vielen Berliner:innen noch unbekannte Banane.
Nichts verriet der Bilderbogen seinerseits über die Herkunft, die globale Migrationsgeschichte der Banane über die Jahrtausende und die Bedingungen, unter denen sie in Geschichte und Gegenwart produziert und gehandelt wurde sowie die damit verbundenen kolonialen Kontexte.
Zu vermuten ist, dass der:die Illustrator:in auf bereits existierende botanische Illustrationen zurückgegriffen hat, so aus einem zeitgenössischen Lexikon.
Banane (Musa paradisiaca.), Deutschland, um 1900
Auf dem Bilderbogen wird die Banane mit ihrer botanischen Bezeichnung „Musa Paradisiaca“ betitelt. Diese geht auf den schwedischen Naturforscher Carl von Linné (1707-1778) zurück. In seinem 1753 erschienenen Werk „Species Plantarum“ begründete er ein europäisch geprägtes System wissenschaftlicher Namensgebung, das bis heute Bestand hat.
Berthe Hoola van Nooten (1817-1892), Botanische Illustration einer Banane, abgedruckt in: "Fleurs, Fruits et Feuillages Choisis de l'Ile de Java",1863-64; Banane (Musa paradisiaca.), Deutschland, um 1900
Botanische Illustrationen gibt es bereits seit der Antike. Die detailgenauen und teils künstlerisch anspruchsvollen Zeichnungen waren bis zur Erfindung der Fotografie eine zentrale Quelle der Pflanzenkunde.
Berthe Hoola van Nooten war eine niederländische Botanik-Künstlerin, die lange Zeit in der niederländischen Kolonie Java lebte. Hier fand sie wohl auch das Vorbild für ihre Darstellung einer Banane.
Im Zuge der europäischen Expansion ab dem 15. Jahrhundert reisten auch Botaniker:innen sowie botanische Maler:innen in die kolonisierten Gebiete. Sie untersuchten, beschrieben, zeichneten, malten und sammelten dort unter Aneignung lokaler Expertisen und Wissensbestände Pflanzen und ihre Bestandteile. Hierzu bedienten sie sich europäischer Klassifikations- und Benennungssysteme und bestimmten die Art und Weise der Repräsentation dieser Pflanzen in Europa.
Diego Rivera (1886-1957), Gloriosa Victoria, 1954; Banane (Musa paradisiaca.), Deutschland, um 1900
Der mexikanische Künstler Diego Rivera thematisiert in diesem Gemälde den vom US-amerikanischen Geheimdienst CIA geplanten und organisierten Putsch gegen die 1954 demokratisch gewählte Regierung Guatemalas. Das US-Unternehmen United Fruit Company war hier ebenfalls involviert.
Die Banane ist eine der ältesten Kulturpflanzen der Welt und hat ihren Ursprung in Indien und Südostasien. Von dort gelangte die Frucht wohl durch Handel in die arabische Welt, nach Ost- und Westafrika und auch bereits nach Südeuropa. Im 15. und 16. Jahrhundert brachten portugiesische und spanische Kolonisatoren die Banane von den Kanarischen Inseln in die Karibik und auf das amerikanische Festland.
Hier hatten sich die europäischen Mächte Portugal und Spanien mit Beginn der Europäischen Expansion ab dem 15. Jahrhundert Kolonien angeeignet. Sie, wie auch nach ihnen weitere Kolonialmächte - so England, die Niederlande oder Dänemark - errichteten in den Amerikas Plantagen, wo Zuckerrohr, Kaffee, Baumwolle und weitere Produkte angebaut wurden. Die koloniale Plantagenwirtschaft des 15. bis 19. Jahrhunderts, die Europäer:innen in Amerika etablierten, basierte auf Genozid, Versklavung, Zwangsarbeit und Gewalt.
Auf der Insel Hispaniola (heute: Haiti und Dominikanische Republik) gab es wohl bereits im 16. Jahrhundert kleinere Bananen-Pflanzungen.
Zur (Neo)Kolonialware par excellence wurde die Banane aber erst Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts. Dies hing eng zusammen mit verbesserten Transportbedingungen für die leicht verderbliche Banane, namentlich die Bananenkühlschifffahrt. Es waren vornehmlich US-amerikanische Konzerne, so die United Fruit Company (UFC, heute: Chiquita), die den Handel mit Bananen, die nun auf riesigen Plantagen in Mittel- und Südamerika angebaut wurden, beherrschten. Auch nach dem Ende der Versklavung herrschten in der Plantagenwirtschaft miserable Arbeitsbedingungen. Hier gingen wirtschaftliche Interessen mit politischer Einflussnahme Hand in Hand. Die USA intervenierten über Jahrzehnte politisch und militärisch in Anbauländern wie Kolumbien und Guatemala, um gewaltförmig die wirtschaftlichen Interessen der UFC durchzusetzen.
Diese scheinbar vergangenen kolonialen und ausbeuterischen Strukturen sowie ihre Konsequenzen wirken noch heute fort. Von jeder verkauften Banane bleiben nur ca. 15 % des Umsatzes im Anbauland, den größten Teil schöpfen ausländische Unternehmen ab. Deutschland und andere europäische Länder profitieren bis heute von der globalen Ungerechtigkeit, die ihren Anfang in der Kolonisierung hat.
Nicht zuletzt ist der Anbau von Bananen bis heute ein Beispiel für umweltzerstörerische Monokulturen in Verbindung mit dem Einsatz von Pestiziden mit ihren vielfältigen negativen Begleiterscheinungen für Menschen und Natur.
Karl Brandmann, Prinzenstaße 16, Berlin, April 1912; Banane (Musa paradisiaca.), Deutschland, um 1900
In diesem Berliner Geschäft wurden womöglich auch Bananen aus der deutschen Kolonie Kamerun verkauft.
1884 begann das deutsche Kaiserreich sich gewaltsam Gebiete in Afrika und Asien anzueignen und hier Kolonien zu errichten, so in Kamerun. Hier führten die deutschen Kolonisator:innen die Plantagenwirtschaft ein.
Der Aufbau und Betrieb von Plantagen gingen einher mit Landraub, Gewalt, Ausbeutung und Zwangsarbeit. Dies galt auch für die Pflanzungen der 1910 gegründeten Afrikanischen Frucht-Compagnie (A.F.C.), wo Bananen für den Export ins Deutsche Reich angebaut wurden.
Lucien Walery (Fotograf), Josephine Baker in der Show „Un Vent de Folies“ im Theater „Folies Bergère“, Paris 1927; Banane (Musa paradisiaca.), Deutschland, um 1900
Die Banane hat einen festen Platz innerhalb des Anti-Schwarzen Rassismus. Hier werden Schwarze Menschen häufig mit Affen gleichsetzt und ihnen damit das Mensch-Sein abgesprochen. Die Banane als vermeintliche Leibspeise von Affen wird dann zum Accessoire entsprechender rassistischer Repräsentationen.
1926 trat die Schwarze US-amerikanische Künstlerin Josephine Baker im Berliner Nelson Theater auf. Für ihre ikonisch gewordene Performance trug sie einen Gürtel aus sechzehn Plüschbananen. Sie spielte dabei selbstbewusst und ironisch mit Erwartungshaltungen eines mehrheitlich weißen Publikums.
Zeitlebens engagierte sich Josephine Baker politisch und gegen Rassismus – so als Widerstandskämpferin in Frankreich im Zweiten Weltkrieg und später in der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung.
In Berlin ist Josephine Baker bis heute präsent: im Wachsmuseum Madame Tussauds wie auch kürzlich im Wintergarten-Variété „Josephine“.
Authaler, Caroline, Deutsche Plantagen in Britisch-Kamerun. Internationale Normen und lokale Realitäten 1925-1940, Wien 2018.
Gillman, Len Norman / Donald Wright, Shane, Restoring indigenous names in taxonomy, in: Communications biology 3 (1), 2000, S. 609.
Museum der Arbeit (Hg.), Tanz um die Banane: Handelsware und Kultobjekt. Katalog zur Ausstellung im Museum der Arbeit, Hamburg (21.3.-28.9.2003), Hamburg 2003.
Schiebinger, Londa / Swan, Claudia (Hg.), Colonial botany. Science, commerce, and politics in the early modern world, Philadelphia 2007.
Wilke, Kerstin, “Die deutsche Banane”. Wirtschafts- und Kulturgeschichte der Banane im Deutschen Reich, 1900-1939, Hannover 2004. (https://edocs.tib.eu/files/e01dh04/390270482.pdf)
Dieser Bilderbogen zeigt kolonialrassistische Inhalte. Diese sind menschenverachtend und können für Schwarze Menschen, Indigene Menschen und People of Colour (BIPoC) verletzend und (re-)traumatisierend sein.
„Das Gefecht am Kaiser Wilhelmsberg“ aus der Serie „Aufstand der Herero“, Neuruppin, 1904
Titel | „Das Gefecht am |
Sammlung | Bilderbogen |
Hersteller | Verlag und Druck Gustav Kühn |
Herstellungsort und Datum | Neuruppin, 1904 |
Material und Technik | Papier, Drucktechniken |
Maße | 34 x 42 cm |
Inventarnummer | IV 61/522 S a,b |
Schlagworte | Rassismus, Kolonialismus, Genozid, Widerstand, Kolonialkrieg, Druckgrafik |
„Das Gefecht am Kaiser Wilhelmsberg“ aus der Serie „Aufstand der Herero“, Neuruppin, 1904
Der Bilderbogen „Das Gefecht am Kaiser Wilhelmsberg“ von 1904 zeigt eine Kriegsszene, in der sich weiße deutsche Kolonialsoldaten und Schwarze Herero-Kämpfer gegenüberstehen. Ein kurzer Text kommentiert das dargestellte Geschehen. Der Bilderbogen ist Teil einer Serie mit dem Titel „Aufstand der Herero“.
Im Hintergrund rechts ist eine europäisch anmutende Festung zu sehen. Mittig oben im Bild ist ein Berg zu sehen. Links daneben erahnt man ein weiteres Bauwerk; hierüber sind zwei Explosionen am Himmel angedeutet.
Im mittleren Bildteil stürmen Infanteriesoldaten von der Festung kommend auf eine Gruppe Herero zu. Die Figuren sind recht klein und nur schemenhaft gezeichnet. Details sind nicht erkennbar.
Sehr viel präziser ist die Darstellung im Bildvordergrund. Unten links befindet sich ein offenes Zelt, in dem eine Schwarze Frau steht, die eine Lanze in Richtung Kampfgeschehen richtet; zu ihrer Rechten befindet sich ein kniendes Kind, das sie wohl zu beschützen sucht. Darüber hinaus wird der Vordergrund maßgeblich von einer Schlachtendarstellung eingenommen. Weiße Soldaten in Uniformen zu Pferd kämpfen gegen leicht bekleidete Schwarze Männer. Einer von ihnen ergreift auf einem Rind reitend die Flucht. Einzelne weitere Schwarze Kämpfende versuchen zu Fuß zu flüchten, andere liegen am Boden oder sinken – wohl verletzt – nieder. In dramatisch anmutenden Posen dominieren sie den unmittelbaren Bildvordergrund.
„Das Gefecht am Kaiser Wilhelmsberg“ aus der Serie „Aufstand der Herero“, Neuruppin, 1904
In diesem Bilderbogen wird das „Gefecht am Kaiser Wilhelmsberg“ am 27./28. Januar 1904 dargestellt. Es handelt sich hierbei um eine Kampfhandlung zwischen deutschen Soldaten und Herero-Kämpfern in der Anfangsphase des Kriegs der Herero gegen die deutsche Kolonialmacht ab 12. Januar 1904. Das Gefecht ist in Okahandja, dem historischen Zentrum der Herero, situiert, wo der Aufstand seinen Anfang nahm. Hier hatten die Deutschen ab 1894 eine steinerne Festung errichtet, die die Herero im Zuge ihres Widerstands belagerten. Der Bilderbogen soll die Beendigung dieser Belagerung durch deutsche Kolonialsoldaten darstellen.
Es wird hier also ein spezifischer historischer Moment gezeigt, allerdings interpretiert durch den:die Illustrator:in. Dass die Person selbst über Ortskenntnis verfügte, erscheint sehr unwahrscheinlich.
Das Gefecht wird als offene Feldschlacht dargestellt, von der fraglich ist, ob sie in dieser Form stattgefunden hat. Damit knüpft der Bilderbogen – unabhängig von den realen Geschehnissen vor Ort – an europäische Sehgewohnheiten zu Schlachten-Darstellungen in der Kunst an.
„Das Gefecht am Kaiser Wilhelmsberg“ aus der Serie „Aufstand der Herero“, Neuruppin, 1904
Die Art und Weise der Darstellung der Herero-Kämpfer ist als koloniale Fantasie zu bewerten.
Im Bild sind sie lediglich mit farbenfrohen „Lendenschurzen“ bekleidet – tatsächlich aber trugen sie überwiegend europäische Kleidung. Zwar gab es Anfang des 20. Jahrhunderts weiterhin Herero, die einen ihnen spezifischen Kleidungsstil pflegten – allerdings waren die damit verbundenen Bekleidungsstücke zumeist aus Leder gefertigt und nicht aus bunten Stoffen. Indem die Herero in vermeintlich „traditioneller“ Kleidung dargestellt sind, werden sie einerseits visuell stark von den weißen uniformierten Kolonialsoldaten abgegrenzt und damit als die „Anderen“ markiert.
Zudem fungierte diese Form der Repräsentation Schwarzer Menschen – unabhängig von der Frage historischer Korrektheit – innerhalb des europäischen Anti-Schwarzen Rassismus als Marker für „Unzivilisiertheit“ und damit für Unterlegenheit. Die Art und Weise der Darstellung der Herero-Kämpfer, die sich auch durch die Betonung viel nackter, muskulöser Haut auszeichnet, knüpft zudem an rassistische Klischees von überzeichneter Männlichkeit und Stärke an. Trotzdem die Herero so als körperlich starke Kämpfer repräsentiert werden, werden sie als den Deutschen militärisch und im Mut unterlegen inszeniert.
„Das Gefecht am Kaiser Wilhelmsberg“ aus der Serie „Aufstand der Herero“, Neuruppin, 1904
Es finden sich einzelne im Grundsatz historisch korrekte, gewissermaßen ethnografische Zitate in Bezug auf die Darstellung der Herero. Hier ist einerseits die Kopfbedeckung der Herero-Frau in der vorderen linken Bild-Ecke zu nennen. Das Rind, auf dem einer der Herero reitet, verweist seinerseits auf die große Bedeutung, die Rinder und die Rinderzucht für die Herero historisch-kulturell hatten.
„Das Gefecht am Kaiser Wilhelmsberg“ aus der Serie „Aufstand der Herero“, Neuruppin, 1904
Links unten auf dem Bilderbogen ist eine bewaffnete Herero-Frau beim Versuch, ihr Kind zu schützen, dargestellt.. „Wem gehört Hereroland? Uns gehört Hereroland!“, sollen die Herero-Frauen während des Kriegs 1904 gerufen und damit ihre Männer angefeuert haben.
Während die Herero-Anführer dezidiert dazu aufgerufen hatten, deutsche Frauen und Kinder am Leben zu lassen, prägte Brutalität auch gegenüber Frauen, Kindern und alten Menschen die deutsche Kriegsführung während des Genozids an den Herero und Nama. In der deutschen Gefangenschaft erhielten Frauen weniger Essensrationen und waren sexueller Gewalt ausgesetzt.
Die Ikonografie des Bilderbogens ist insgesamt idealisierend, heroisierend, ästhetisierend und trivialisierend.
Die weißen Deutschen siegen gegen die Herero in einem vermeintlich fairen Kampf. Zwar ist insbesondere der Bildvordergrund detailverliebt ausgestaltet; übermäßig blutig wird es hier aber nicht. Die eigentlichen Grauen des Krieges bleiben ungesehen. Ebenfalls unsichtbar sind die Gewaltförmigkeit des kolonialen Regimes wie auch die deutschen Kolonialverbrechen, die zum Krieg der Herero gegen die deutsche Kolonialmacht geführt haben.
Tatsächlich waren die Herero in der frühen Phase des Kriegs, auf die dieser Bilderbogen rekurriert, militärisch betrachtet noch nicht unterlegen. Bis einschließlich Juni 1904 konnten die Deutschen keine größeren Erfolge vorweisen. Insofern dienten Darstellungen wie diese, die militärisch wenig bedeutende Momente zu heroischen Siegen deutscher Kolonialsoldaten stilisierten, sicher auch dazu, die weniger erhebende Realität zu kaschieren und die Identifikation der Metropole mit den deutschen Kolonialsoldaten in Deutsch-Südwestafrika zu befördern.
1884 errichtete das Deutsche Reich auf dem Gebiet des heutigen Namibia die Kolonie Deutsch-Südwestafrika. Sie war nicht zuletzt als Siedlungsgebiet für auswanderungswillige Deutsche vorgesehen. Insgesamt ließen sich dort bis zum Ersten Weltkrieg rund 12.000 deutsche Siedler:innen nieder – ohne Rücksicht auf die einheimischen Bevölkerungsgruppen der Herero, Nama, Damara und San. Die Deutschen entrechteten und enteigneten diese zunehmend. Vielfach waren sie Gewalttaten ausgesetzt. Viele Herero- und Nama-Frauen wurden Opfer sexueller Gewalt.
Erst die Herero und später dann auch die Nama setzten sich ab 1904 gegen die deutsche Kolonialmacht zur Wehr. Der antikoloniale Krieg, der im Januar unter der Führung von Samuel Maherero begann, wurde von den Deutschen nach anfänglichen Erfolgen der gut ausgerüsteten und organisierten Herero brutal niedergeschlagen. Unter General Lothar von Trotha begingen die Deutschen zwischen 1904 und 1908 Völkermorde an den Herero und an den Nama. Nach der „Schlacht am Waterberg“ im August 1904 trieben sie die überlebenden Herero einschließlich Frauen und Kindern in die Omaheke-Wüste und schnitten ihnen den Zugang zu den Wasserstellen ab. Die Überlebenden wurden in Konzentrationslager verbracht. Die letzten hiervon wurden 1908 aufgelöst. Schätzungen zufolge wurde etwa 65.000 von 80.000 Herero ermordet sowie mindestens 10.000 von 20.000 Nama.
Die Diskriminierung, Unterdrückung und Ausbeutung der komplett enteigneten Herero und Nama setzten sich bis zum Ersten Weltkrieg fort. Die deutsche Kolonialherrschaft über Südwestafrika endete erst 1915, als das deutsche Militär vor den südafrikanischen Truppen des britischen Empire kapitulierte.
abgebildet in: Theodor Leutwein: Elf Jahre Gouverneur in Deutsch-Südwestafrika, Berlin 1908 [3. Aufl.], S. 515; „Das Gefecht am Kaiser Wilhelmsberg“ aus der Serie „Aufstand der Herero“, Neuruppin, 1904
Auf dem Foto rechts sind die Herero und Nama zu sehen, die sich anlässlich der „Ersten Deutschen Kolonialausstellung“ im Rahmen der Gewerbeausstellung 1896 in Berlin aufhielten. Der dritte Mann von links oben ist Friedrich Maherero, Sohn von Samuel Maherero, der im Januar 1904 den Widerstand der Herero gegen die deutsche Kolonialmacht anführen sollte. Die hochrangige Delegation aus der Kolonie Deutsch-Südwestafrika war an diplomatischen Kontakten interessiert und bemühte sich erfolgreich um eine Audienz bei Kaiser Wilhelm II.
Friedrich Maherero brachte Jahrzehnte später seine Frustration darüber zum Ausdruck, dass der Delegation nur wenige Möglichkeiten geboten wurden, Deutschland näher kennenzulernen.
Vertreter:innen von Herero und Nama demonstrieren 2016 vor dem Humboldt Forum in Berlin; „Das Gefecht am Kaiser Wilhelmsberg“ aus der Serie „Aufstand der Herero“, Neuruppin, 1904
Jahrzehntelang schwiegen die Deutschen über den von ihnen verübten Genozid an den Herero und Nama. Weder fand eine breitere historische Aufarbeitung statt noch eine Anerkennung des Völkermords.
Vertreter:innen von Herero und Nama kämpfen seit Jahrzehnten für eine völkerrechtliche Anerkennung und Reparationen. Erst 2015 begannen Gespräche zwischen der namibischen und der deutschen Regierung bezüglich einer Aufarbeitung der deutschen Kolonialverbrechen in Namibia. Eine erste Einigung wurde 2021 erzielt – allerdings ist das entsprechende Abkommen bisher nicht ratifiziert worden. Es gibt massive Kritik von Seiten der regierungsunabhängigen Opferverbände, die mit eigener Stimme an den Verhandlungen mit der Bundesrepublik Deutschland beteiligt sein wollen.
Vom 14. bis 16. Oktober 2016 fand in Berlin der von Berlin Postkolonial e.V. im Rahmen der UN-Dekade für Menschen afrikanischer Herkunft organisierte Erste Transnationale Herero- und Namakongress statt. Am Kongress nahmen über 50 Herero- und Nama-Aktivist:innen aus Namibia und aus der Diaspora teil.
Höhepunkt des Kongresses war ein Protest- und Solidaritätsmarsch zur Baustelle des Humboldt Forums am 16. Oktober, auf dem gegen die Wiedererrichtung des Hohenzollern-Palastes und für die Anerkennung des Völkermords und Reparationen demonstriert wurde.
Förster, Larissa, Postkoloniale Erinnerungslandschaften. Wie Deutsche und Herero in Namibia des Kriegs von 1904 gedenken, Frankfurt a.M./New York 2010.
Henrichsen, Dag, Herrschaft und Alltag im vorkolonialen Zentralnamibia. Das Herero- und Damaraland im 19. Jahrhundert, Basel Windhoek 2011.
Krüger, Gesine, Kriegsbewältigung und Geschichtsbewusstsein. Realität, Deutung und Verarbeitung des deutschen Kolonialkriegs in Namibia 1904-1907, Göttingen 1999.
Zeller, Joachim / Zimmerer, Jürgen, Völkermord in Deutsch-Südwestafrika. Der Kolonialkrieg (1904-1908) in Namibia und seine Folgen, Berlin 2004.
Bilderbogen mit Tieren, ohne Titel. Nr. 9953, Neuruppin, 1850-1925
Titel | Bilderbogen mit Tieren, ohne Titel. Nr. 9953 |
Sammlung | Bilderbogen |
Hersteller | Druck und Verlag Oehmigke und Riemschneider |
Herstellungsort und Datum | Neuruppin, 1850-1925 |
Material und Technik |
Papier, Drucktechniken |
Maße | 34 x 42 cm |
Inventarnummer | SM 2022-02881,0297 |
Schlagworte | Tiere, Druckgrafik, Kolonialismus, Zoologie |
Bilderbogen mit Tieren, ohne Titel. Nr. 9953, Neuruppin, 1850-1925
Dieser Bilderbogen zeigt zoologische Illustrationen von insgesamt sechzehn afrikanischen, asiatischen, amerikanischen und europäischen Säugetieren, die vor demselben neutralen Hintergrund positioniert sind. Nur der jeweilige Boden, auf dem sie stehen, unterscheidet sich teilweise. Die Tiere sind alle ähnlich groß dargestellt, unabhängig von den realen Größenverhältnissen zwischen ihnen. Es fehlen die Bezeichnungen der Tiere.
Es sind Säugetiere aus unterschiedlichen Teilen der Welt nebeneinander ohne spezifischen Hintergrund zu sehen. Ihre Auswahl und Anordnung erscheint beliebig.
Die Art und Weise der Darstellung der einzelnen Tiere ist im Stil populärwissenschaftlicher zoologischer Illustrationen aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gehalten. Diese zeichnete sich durch „Lebensnähe“ aus und erhob Anspruch auf größtmögliche Authentizität.
Tier-Illustrationen erfreuten sich in dieser Zeit in Europa und Deutschland großer Beliebtheit. Bilderbogen wie dieser machten sie auch für ein breites Publikum verfügbar. Kinder konnten die Einzelmotive ausschneiden und sammeln.
Auf dem Bilderbogen sind Tiere aus aller Welt wie selbstverständlich nebeneinander platziert. Dass es auch von Tieren aus weit entfernten Regionen zunehmend lebensnahe Illustrationen gab, lag nicht zuletzt in der weiteren kolonialen Expansion Europas im 19. Jahrhundert begründet. Tier-Illustrator:innen hatten zunächst über Menagerien und ab Mitte des 19. Jahrhunderts über die neu begründeten Zoologischen Gärten, teils aber auch durch Teilnahme an kolonialen Expeditionen direkten Zugang zu Tieren, die zuvor nicht aus eigener Anschauung bekannt waren.
Tiere waren in verschiedener Hinsicht vom europäischen Kolonialismus betroffen. In den kolonisierten Gebieten in Afrika, Asien und Amerika waren sie Arbeitskraft, Nahrungsmittel, Anschauungs- und Untersuchungsobjekt. Europäer:innen jagten und töteten sie zum Vergnügen und zur Gewinnung von Trophäen. Unzählige Tiere wurden gefangen genommen und nach Europa verbracht, wo sie in Zirkussen, Menagerien und zoologischen Gärten zur Schau gestellt wurden. Hier dienten sie nicht nur als Objekte von Betrachtung und Belehrung, sondern symbolisierten nicht zuletzt das "Andere" und "Wilde" in den von den vermeintlich zivilisierten Europäer:innen beherrschten Kolonien.
Um 1900 waren Tiere aus kolonisierten Gebieten in Europa auch in verschiedensten Medien allgegenwärtig: in Filmen, Plakaten, Werbemitteln sowie in Form von künstlerischen Arbeiten. Als "exotisch" markierte Tiere wie Löwen, Giraffen oder Elefanten dienten als Sinnbilder der kolonialen Beherrschung weiter Teile Afrikas und Asiens durch Europäer:innen.
Bilderbogen mit Tieren, ohne Titel. Nr. 9953, Neuruppin, 1850-1925
Der Berberaffen (auch: Magot), der auf dem Bilderbogen rechts unten zu sehen ist, lebt im nördlichen Afrika und auf Gilbraltar.
Die Illustration ist einer entsprechenden Vorlage aus der ersten Ausgabe von „Brehms Thierleben“ (1864-1869) nachempfunden.
„Brehms Thierleben“, verfasst von dem Vogelkundler und Naturforscher Alfred Brehm (1829-1884), war eine der ersten Publikationen, die einem breiteren Publikum im deutschsprachigen Raum die Welt der Tiere nahe brachte. Brehm war ein Vertreter der „biologischen Perspektive“. Er interessierte sich für das lebende Tier und seine Lebensweise. Damit gehörte er den „Praktikern der Naturgeschichte“ an und grenzte sich von der zu seiner Zeit noch dominierenden universitären Zoologie ab.
Aus diesem Grund legte er auch großen Wert auf möglichst lebensnahe Abbildungen der Tiere, über die er schrieb. Zu diesem Zweck arbeitete er mit ausgewählten Illustrator:innen zusammen, die seine Haltung teilten. Die Idealvorstellung dabei war, das lebende Tier zu zeichnen, bestenfalls in seiner eigentlichen Umgebung, meist aber in den neu begründeten Zoologischen Gärten. Auch dies war bisher keine gängige Praxis gewesen – vielmehr waren meist präparierte, tote Tiere Grundlage von Illustrationen.
Brehm selbst bereiste seinerseits zweimal den afrikanischen Kontinent als Mitglied von Forschungsreisen, beim zweiten Mal in Begleitung seines engen Mitarbeiters Robert Kretschmer (1818-1872), der Tier-Illustrator war. Berichte über solche Reisen, wie auch Brehm sie verfasste, prägten bereits vor der Zeit des formalen deutschen Kolonialismus das kolonialrassistische deutsche Afrika-Bild.
In der ersten Auflage von „Brehms Thierleben“ sind wohl nur fünf Illustrationen auf Grundlage eigener Anschauung auf dem afrikanischen Kontinent entstanden. Das Gros der Illustrationen „nach der Natur“ bzw. „nach dem lebenden Tier“ in „Brehms Thierleben“ entstand in Zoos oder Menagerien. Darüber hinaus übernahm Brehm aber auch Illustrationen aus anderen Publikationen, so aus der „Illustrated Natural History“ (1861) des britischen Autors John George Wood (1827-1889). Hieraus könnte auch die Illustration des Berberaffen übernommen worden sein.
F. E. Feller (Kartograph), PLAN des zoologischen Gartens bei Berlin, 1845 (links); Unbekannter Künstler, Zoologischer Garten Berlin. (Orientierungsplan), Berlin-Charlottenburg, um 1902; Bilderbogen mit Tieren, ohne Titel. Nr. 9953, Neuruppin, 1850-1925
Ab Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden in Europa die ersten öffentlichen Zoologischen Gärten. In Berlin gründete sich der Zoo im Jahr 1844.
Schon bald versuchten die europäischen Zoo-Verantwortlichen, nicht-einheimische Tiere zu erwerben. Denn insbesondere als "exotisch" geltende Tiere versprachen mehr zahlendes Publikum. Die Tiere kamen entweder als Geschenke befreundeter Herrscherhäuser oder Forschungsreisender in die Zoos oder wurden professionellen Tierhändler:innen abgekauft. Viele Tiere starben bereits während der Reise.
Mit Beginn des formalen deutschen Kolonialismus 1884 spielten die neu erworbenen deutschen Kolonien eine große Rolle beim Erwerb von Tieren. So kamen 1907 zehn von elf Löwen aus von Deutschen gewaltsam angeeigneten Gebieten.
Bilderbogen mit Tieren, ohne Titel. Nr. 9953, Neuruppin, 1850-1925
1857 wurde der erste asiatische Elefant in den Zoologischen Garten Berlin verbracht. „Boy“, wie er genannt wurde, wurde wohl 1847 in der britischen Kolonie Ceylon (heute: Sri Lanka) in Freiheit geboren. Der Zoo hatte ihn seinerseits der Menagerie Liphard abgekauft. Auf welchen Wegen die Menagerie sich den jungen Elefanten angeeignet hatte, ist uns nicht bekannt.
1867 tötete „Boy“ seinen Wärter. Er selbst starb 1879 im Berliner Zoo.
Winkelmann & Söhne (Herausgeber), Das Elefantenhaus im Zoologischen Garten in Berlin, Berlin, 1870; Bilderbogen mit Tieren, ohne Titel. Nr. 9953, Neuruppin, 1850-1925
Während der Zeit der britischen Kolonialherrschaft 1814 bis 1947 töteten Brit:innen unzählige Elefanten – die Großwildjagd war in europäischen Kolonien ein beliebtes Freizeitvergnügen weißer Männer und teilweise auch Frauen. So wird der britische Major Thomas William Rogers, der sich rühmte über 1.400 Elefanten während seines Aufenthalts in der Kolonie Ceylon getötet zu haben, bis heute in Sri Lanka negativ erinnert – sein Grab gilt als verflucht.
Auch in Sinthujan Varatharajahs Buch "an alle orte, die hinter uns liegen" sind Elefant:innen ein zentrales Motiv, anhand derer die Gewalt des europäischen Kolonialismus und dessen Nachwirkungen bis in die eigene tamilische Familiengeschichte hinein nachgezeichnet werden. Sinthujan Varatharajah zeigt hier auf, wie zeit- und raumgreifend koloniale Verflechtungen bis in die Gegenwart hineinwirken.
https://animalsasobjects.org/de/
Berger, John, Warum sehen wir Tiere an?, in: Ders, Das Leben der Bilder oder die Kunst des Sehens, Berlin 2015, S. 13-38 (Erstausgabe 1980).
Chichester, Lee / Gisler, Priska / Kunstmuseum Bern (Hg.), Koloniale Tiere? Tierbilder im Kontext des Kolonialismus, Berlin 2024.
Gall, Alexander, Authentizität, Dramatik und der Erfolg der populären zoologischen Illustration im 19. Jahrhundert: Brehms Thierleben und die Gartenlaube, in: Samida, Stefanie (Hg.), Inszenierte Wissenschaft. Zur Popularisierung von Wissen im 19. Jahrhundert, Bielefeld 2016, S. 103-126.
Gibißl, Bernhard, Das kolonisierte Tier: Zur Ökologie der Kontaktzonen des deutschen Kolonialismus, in: Werkstatt Geschichte (56), 2010, S. 7-28.
Krüger, Gesine, Das koloniale Tier. Natur – Kultur – Geschichte, in: Forrer, Thomas / Linke, Angelika (Hg.), Wo ist Kultur? Perspektiven der Kulturanalyse, Zürich 2014, S. 73-94.
Dieser Bilderbogen zeigt kolonialrassistische Inhalte. Diese sind menschenverachtend und können für Schwarze Menschen, Indigene Menschen und People of Colour (BIPoC) verletzend und (re-)traumatisierend sein.
„Die Einnahme von Peking“ aus der Serie „Der Boxer=Aufstand in China“, Weissenberg/Elsass, um 1900
Titel | „Die Einnahme von Peking“ aus der Serie „Der |
Sammlung | Bilderbogen |
Hersteller | Druck und Verlag C. Burkhardt Nachfahre. Weissenburg (Elsass) |
Herstellerort und Datum | Weissenburg/Elsass, um 1900 |
Material und Technik | Papier, Drucktechnik |
Maße | 34 x 41 cm |
Inventarnummer | SM 2022-02881,0113 |
Schlagworte | Kolonialismus, Druckgrafik, Kolonialkrieg, China |
„Die Einnahme von Peking“ aus der Serie „Der Boxer=Aufstand in China“, Weissenberg/Elsass, um 1900
Der Bilderbogen „Die Einnahme von Peking“ zeigt eine Kampfszene, an der Soldaten verschiedener Kriegsparteien beteiligt sind. Ein kurzer Text kommentiert das dargestellte Geschehen. Der Bilderbogen ist Teil einer Serie mit dem Titel „Der Boxer=Aufstand in China“.
Der Bildhintergrund wird von einem großen Tor, das in eine Mauer eingefasst ist, dominiert. Im Tordurchgang sind herauskommende Soldaten angedeutet. Auf der Mauer stehen Soldaten in Verteidigungshaltung. Manche sind verwundet. Zwei Beteiligte, die jeweils einen langen Zopf tragen, sind im Absturz begriffen. Unterhalb der Mauer erkennt man nach oben schießende Soldaten.
Den Bildvordergrund nehmen intensive und gewaltvolle Nahkampfszenen ein, an denen Soldaten mehrerer Kriegsparteien beteiligt sind. Die Soldaten in grün-weißen und blau-weiß-roten Uniformen haben dabei die Oberhand. Die Soldaten in blau-roter und gelb-rot-blauer Uniform sind mehrheitlich schwer verletzt und fallen zu Boden.
Mittig rechts blickt ein grün-weiß gekleideter Soldat, bewaffnet mit Revolver und in die Luft gehobenen Säbel, über seine Schulter direkt zur Bilderbogen-betrachtenden Person.
„Die Einnahme von Peking“ aus der Serie „Der Boxer=Aufstand in China“, Weissenberg/Elsass, um 1900
Der Bilderbogen zeigt einen konkreten historischen Moment namentlich „Die Einnahme von Peking“ durch die im Boxerkrieg gegen China verbündete Acht-Nationen-Allianz (bestehend aus Österreich-Ungarn, dem Deutschen Reich, Großbritannien, Frankreich, Italien, Russland, Japan und den USA) am 14. August 1900 und die damit verbundene Beendigung der Belagerung des Pekinger Gesandtschaftsviertels durch chinesische Streitkräfte.
Es handelt sich um einen so genannten Aktualitätenbogen, der wohl bereits kurz nach dem hier repräsentierten Ereignis publiziert wurde.
Peking war zu dieser Zeit von einer auf das 15. Jahrhundert zurückgehende Stadtmauer umgeben, die mit mehreren Stadttoren versehen war. Hier wird inszeniert, wie sich alliierte Soldaten den Zugang in die Stadt erkämpfen. Der Bilderbogen nimmt dabei die Perspektive der alliierten Soldaten ein, die von außen auf die Stadt schauen.
Welche Nationen hier repräsentiert sein sollen, ist nicht zweifelsfrei identifizierbar. Der:die Illustrator:in hat hier wohl kreative Freiheit walten lassen. Die Art und Weise der Darstellung der alliierten Seite ist von einem westlichen Bekleidungsstil geprägt und markiert so einen eindeutigen Gegensatz zu den chinesischen Kämpfenden, die sich durch einen sich hiervon abhebenden Uniformen-Stil visuell absetzen.
„Die Einnahme von Peking“ aus der Serie „Der Boxer=Aufstand in China“, Weissenberg/Elsass, um 1900
Zugleich dient der mittig rechts positionierte alliierte Soldat, der die Betrachtenden anschaut, dazu, die Identifikation mit der alliierten Seite zu stärken. Der siegesgewisse Blick gepaart mit einer Darstellung, die die vermeintliche Überlegenheit der alliierten Seite betont, zieht die den Bilderbogen betrachtende Person auf die Seite derjenigen, die die chinesischen Streitkräfte besiegen. Nicht zuletzt stärkt der Blickkontakt zwischen der Figur im Bild und den Betrachter:innen den Eindruck von unmittelbarer Teilhabe am Geschehen.
Auffällig ist nicht zuletzt die fast schon gelangweilt wirkende Attitüde der alliierten Soldaten im Kontrast zu den vielfach schmerzverzerrten Gesichtern ihrer chinesischen Kontrahenten.
„Die Einnahme von Peking“ aus der Serie „Der Boxer=Aufstand in China“, Weissenberg/Elsass, um 1900
Als stärkster Marker von Differenz fungieren dabei die Zöpfe der von der Mauer herabstürzenden Soldaten. Ein Element der um 1900 in der deutschen Presse und Literatur vorherrschenden herabwürdigenden und kolonialrassistischen Darstellung chinesischer Menschen war die negative Betonung der Zöpfe, die Männer in China in dieser Zeit typischerweise trugen.
Die mandschurische Qing-Dynastie, die 1644 die Herrschaft über China gewonnen hatte und das Land seitdem regierte, hatte die entsprechende Haartracht – ausrasiertes Stirnhaar in Verbindung mit einem langen, geflochtenen Zopf – der männlichen chinesischen Bevölkerung auferlegt. Schon lange zur Normalität geworden, galt er Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts innerhalb der chinesischen nationalistischen Bewegung als Symbol der „Fremdherrschaft“ durch die Qing-Dynastie. Mit der chinesischen Revolution von 1911 wurde die Zopfpflicht offiziell abgeschafft.
Im 19. Jahrhundert konkurrierten europäische Großmächte um wirtschaftliche wie politische Einflusssphären und den Erwerb von Kolonien weltweit, so auch in Asien. China, das seit 1644 von der Dynastie der mandschurischen Qing regiert wurde, war zunehmend ihrem Druck ausgesetzt.
Mit dem ersten Opiumkrieg (1839-1842) und den ihn beschließenden Vertrag von Nanjing begann die zwangsweise Öffnung Chinas für westliche Produkte und christliche Missionare. Dieser Vertrag war der erste einer ganzen Reihe ungleicher Verträge, die unter Gewaltandrohung bzw. -anwendung gegenüber China abgeschlossen wurden. Auch Preußen erwirkte 1861 im Zuge der so genannten Preußischen Ostasien-Expedition solch einen Vertrag.
China verlor die Autonomie über seine Zolltarife; Missionare aus dem Ausland erhielten zahlreiche Rechte und Freiheiten. Das Land sah sich gezwungen, der Errichtung von Kolonialstützpunkten ausländischer Großmächte zuzustimmen. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts erweiterte auch das zur imperialen Großmacht aufgestiegene Japan seinen Einfluss in China.
China war zwar keine Kolonie im engeren Sinne, aber befand sich in vielfältigen kolonialen Abhängigkeitsverhältnissen zu den europäischen Kolonialmächten, den USA, Russland und Japan.
Am 9. Oktober 1874 wurde die Gründung des Märkischen Provinzial-Museums beschlossen – also vor 150 Jahren. Erfahren Sie mehr darüber in einer Chronik auf unserer Website.
An der imperialistischen Preußischen Ostasien-Expedition (1860-1863) nach Japan, China und Siam (heute: Thailand) nahm unter anderem der Berliner Marinestabsarzt Carl Friedel teil. Von dieser Reise brachte er eine unbekannte Anzahl von Kulturgütern, so auch aus China, mit zurück nach Berlin. Die Umstände ihres Erwerbs sind bisher nicht untersucht. Einzelne dieser Kulturgüter gelangten schließlich in die Sammlung des 1874 gegründeten Stadtmuseums Berlin, damals: Märkisches Provinzialmuseum.
Carl Friedel war der ältere Bruder des ersten Museumsdirektors, Ernst Friedel (1837-1918). Dieser plante eine Sammlung der Natur- und Kulturgeschichte. Der Schwerpunkt lag dabei auf der Geschichte Berlins und der Mark Brandenburg. Friedel sammelte zunächst aber auch Kulturgüter aus anderen Ländern.
Digitalisat Inventarbuch „Ausland Neuzeit“; „Die Einnahme von Peking“ aus der Serie „Der Boxer=Aufstand in China“, Weissenberg/Elsass, um 1900
In diesem Inventarbuch aus den Anfängen des Märkischen Provinizialmuseums sind 279 Kulturgüter verzeichnet, die in den Jahren 1874 bis 1907 zur Sammlung hinzugefügt wurden. Sie kommen teilweise aus europäischen Ländern wie Italien oder Österreich, teilweise stammen sie aber auch aus kolonialen Kontexten, so aus China, Indien und Samoa.
Ein Digitalisat des Inventarbuchs findet sich in der Ausstellung “Dekoloniale – was bleibt?!” im Museum Nikolaikirche.
Die Geschichte dieses besonderen Inventarbuchs ist noch nicht erforscht. Auch ist nicht klar, welche der darin verzeichneten Kulturgüter aus kolonialen Kontexten sich noch immer in der Sammlung des Stadtmuseums Berlin befinden. Die Institution plant, deren Herkunftsgeschichte zu klären und diesen Fragen nachzugehen.
1897 besetzte das Deutsche Reich die Jiaozhou-Bucht in der nordchinesischen Provinz Shandong, erzwang einen Pachtvertrag auf 99 Jahre und errichtete hier die Kolonie Kiautschou. Vorwand hierfür war die Ermordung zweier deutscher Missionare im nordchinesischen Zhang Jia im Kreis Juye.
In der Ausstellung “Dekoloniale – was bleibt?!” im Museum Nikolaikirche sind künstlerische Arbeiten von Yangkun Shi und Charlotte Ming zu sehen, wie sich kritisch mit der deutschen Kolonialgeschichte in China befassen.
Hauptstadt des von Deutschland annektierten Gebiets, wurde das neu errichtete Tsingtau (Qingdao). Hier führte die deutsche Kolonialmacht eine segregierte, kolonialrassistische Gesellschaftsform mit getrennten Wohnvierteln für Deutsche und Chines:innen ein. Auch galt für beide Bevölkerungsgruppen ungleiches Recht. Im Deutschen Reich galt Kiautschou als „Musterkolonie“. Das wirtschaftliche Interesse der Kolonialmacht galt in erster Linie den Kohlevorkommen der Region. Auch als Treibstoff für Kriegsschiffe war Kohle wichtig. Die Kolonie war darüber hinaus ein wichtiger Stützpunkt der deutschen Marine.
Im Zuge des Ersten Weltkriegs verlor Deutschland alle Kolonien, so auch Kiautschou. Es wurde bereits im November 1914 von Japan besetzt und ging erst 1922 an China zurück.
Yìhétuán, 1900 in Beijing Peking 1900 (links); Lin Hei´er, die Anführerin der Roten Laternen, und ihre Mitkämpferinnen; „Die Einnahme von Peking“ aus der Serie „Der Boxer=Aufstand in China“, Weissenberg/Elsass, um 1900
Ende des 19. Jahrhunderts gründeten sich im Norden Chinas die Yihétuán 義和團 („Verband für Gerechtigkeit und Harmonie“). Ein anderer Begriff ist Yìhéquán 義和拳 („Fäuste der Gerechtigkeit und Harmonie“). Von den westlichen Mächten wurden sie als Boxer bezeichnet.
Bei den Yìhétuán handelte sich um einen Zusammenschluss verschiedener traditioneller Faustkampfgruppen. Sie wehrten sich gegen Missernten, Arbeitslosigkeit, soziale Veränderungen durch die christliche Mission, gegen die Enteignung von Land und die Zerstörung von Gräbern – Bedrohungen, für die sie neben der Qing-Regierung vor allem die Kolonialmächte verantwortlich machten. Immer mehr verarmte Menschen schlossen sich an. Die Yìhétuán zerstörten Eisenbahngleise und Kirchen und griffen insbesondere christliche Missionare, aber auch chinesische Christ:innen an.
Die Bewegung weitete sich auf weitere Bevölkerungsschichten aus. Im Frühsommer 1900 erreichte die Bewegung der Yihétuán die chinesische Hauptstadt Peking, und die Qing-Regierung stellte sich schließlich an ihre Seite.
Unter den Kämpfer:innen waren auch Frauen. Sie waren nach Alter in verschiedenen Verbänden organisiert. Bei den “Leuchtenden Roten Laternen” waren junge Mädchen und Frauen aktiv. Sie versorgten in erster Linie Verwundete und Kranke, erkundeten die Lage und überbrachten Nachrichten. Aber sie nahmen auch selbst an Kämpfen teil.
Im Zusammenhang mit der immer weiteren Ausbreitung der Bewegung der Yihétuán kam es zu militärischen Auseinandersetzungen zwischen den Kolonialmächten und der Qing-Regierung. Am 21. Juni 1900 erklärte China Großbritannien, Frankreich, Rußland, Japan, Österreich, Italien, den USA und dem Deutschen Reich den Krieg. Yihétuán sowie Soldaten der Qing-Regierung belagerten das internationale Gesandtschaftsviertels in der chinesischen Hauptstadt.
Die kolonialen Großmächte nahmen die Belagerung zum Anlass, um ihre Interessen in und ihren Zugriff auf China als Allianz gemeinsam durchzusetzen. Ihre Militäraktionen richteten sich im Anschluss an die Befreiung des belagerten Gesandtschaftsviertel nicht nur gegen die Yìhétuán und das chinesische Militär, sondern auch gegen die unbeteiligte Bevölkerung. In der Folge wurden in Nordchina Tausende Chines:innen verletzt und ermordet, Kulturgüter zerstört und geplündert.
Bis heute befinden sich Kulturgüter aus dem Kontext des Boxerkriegs in deutschen Museumssammlungen.
1901 kam es zum Abschluss des Boxer-Protokolls zu Ungunsten Chinas. China musste unter anderem, verteilt über 39 Jahre, 450 Millionen Taels Silber an die imperialen Mächte zahlen. Die Summe entsprach mehr als dem Vierfachen der jährlichen chinesischen Staatseinnahmen.
Der deutsche Kaiser Wilhelm II. (1859-1941) hielt aus Anlass der Verabschiedung der nach China zur Bekämpfung der Yihétuán abreisenden Soldaten die sogenannte „Hunnenrede“. Hier rief er offen zur Nichtachtung des Völkerrechts auf.
Tatsächlich trafen die deutschen Truppenverbände unter Feldmarschall Alfred Graf von Waldersee (1832-1904) erst nach Beendigung der Belagerung des Pekinger Gesandtschaftsviertels in China ein. Zu diesem Zeitpunkt hatten bereits Soldaten anderer alliierter Mächte zahlreiche Verbrechen gegen die chinesische Bevölkerung begangen. Auch die Deutschen, mit 20.000 Soldaten das weitaus größte Kontingent, führten so genannte Strafexpeditionen durch, denen unzählige Menschen, auch Frauen und Kinder, zum Opfer fielen. Folter, Vergewaltigungen, willkürliche Hinrichtungen und Massaker an der Zivilbevölkerung waren an der Tagesordnung.
Am 13. September 1905 wurde im Berliner Stadtteil Wedding der Pekinger Platz benannt. Mit der Namensgebung wollten die Verantwortlichen an den kolonialen Krieg gegen China, den so genannten Boxerkrieg, bzw. genauer: an die Einnahme Pekings durch die imperiale Acht-Mächte-Allianz, zu der auch das Deutsche Reich zählte, erinnern.
Die Namensgebung reihte sich in zahlreiche weitere Straßenbenennungen mit kolonialen Bezügen im Wedding, so die Kiautschoustraße und die Samoastraße wie auch zahlreiche Straßen im „Afrikanischen Viertel“. Für diese Benennungen ist nicht zuletzt Ernst Friedel, der Gründungsdirektor des Märkischen Provinzialmuseums, von großer Bedeutung. Friedel war als Dezernent in der kommunalen Verwaltung zuständig für das Thema Straßenbenennungen.
Für eine Umbenennung der kolonialen Straßennamen im Wedding und darüber hinaus setzen sich dekoloniale zivilgesellschaftliche Initiativen und Einzelpersonen seit Jahrzehnten ein. Erste Erfolge dieses Kampfes haben dazu geführt, dass sich das „Afrikanische Viertel“ in den vergangenen Jahren vom Kolonial- zum Antikolonialviertel gewandelt hat.
In Dahlem hingegen, wo mit Lans-, Taku- und Iltisstraße gleich drei Straßen an den Einsatz der deutschen Marine im Boxerkrieg erinnern, ist die Umbenennung im Sommer 2024 zum wiederholten Mal gescheitert.
Die Texte für die Gedenkstele zum Pekinger Platz verfasste Kimiko Suda im Auftrag von korientation e.V. im Rahmen der Ausstellung “Dekoloniale - was bleibt?!”
Im November 2024 eröffnete die dezentrale Ausstellung „Dekoloniale – was bleibt?!“, ein Kooperationsprojekt des Modellprojekts „Dekoloniale Erinnerungskultur in der Stadt“ und Stadtmuseum Berlin. Ebenfalls beteiligt war der Verein korientation e.V.
Für den Standort „Afrikanisches Viertel“ und „Asiatisch-Pazifische Straßen“ im Wedding konzipierte das Projekt-Team thematische Gedenkstelen. Auf der Gedenkstele zum Pekinger Platz heißt es unter anderem:
„Mit einer Umbenennung des Platzes – zum Beispiel nach Lin Hei´er (林黑兒), einer Anführerin des antikolonialen Widerstands – könnte ein dekolonialer Perspektivwechsel (...) verankert werden.“
Kuss, Susanne/ Martin, Bernd, Das Deutsche Reich und der Boxeraufstand, München 2001.
Leutner, Mechthild / Mühlhahn, Klaus (Hg.), Kolonialkrieg in China. Die Niederschlagung der Boxerbewegung 1900-1901, Berlin 2007.
Leutner, Mechthild, Rassismus und deutscher Kolonialismus in China: Legitimation Weißer Herrschaft und das Feindbild von der „Gelben Gefahr“, in: Leutner, Mechthild / Lu, Pan / Suda, Kimiko (Hg.), Antichinesischer und antiasiatischer Rassismus. Historische und gegenwärtge Diskurse, Erscheinungsformen und Gegenpositionen. Berliner China-Hefte – Chinese History and Society 54, 2022, S. 12–37.
Lixin, Sun, Die chinesische Gesellschaft in Qingdao unter deutscher Kolonialherrschaft (1897 – 1914), in: Andratschke, Claudia / Jachens, Maik (Hg.), Provenienzforschung zu Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten (China) in vier ostfriesischen Museen und Kultureinrichtungen, Heidelberg: arthistoricum.net 2023, S.32-50, https://doi.org/10.11588/arthistoricum.1017.c17048
Lü, Y., Colonial Qingdao through Chinese eyes, in: Mühlhahn, Klaus (Hg.),The cultural legacy of German colonial rule, Berlin/Boston 2017, S. 127–142.
Mühlhahn, Klaus, Herrschaft und Widerstand in der "Musterkolonie" Kiautschou: Interaktionen zwischen China und Deutschland 1897 – 1914, Oldenburg 2000.
Spuren des Boxerkrieges, https://www.smb.museum/museen-einrichtungen/museum-fuer-asiatische-kunst/sammeln-forschen/forschung/spuren-des-boxerkrieges/
Bilderbogen 6 zeigt Szenen von kriegerischer Gewalt.
„Schlacht bei Weißenburg.“ , Frankfurt am Main, 1870-77
Titel | „Schlacht bei Weißenburg.“ |
Sammlung | Bilderbogen |
Hersteller | Druck und Verlag Ed. Gust. May |
Herstellungsort und Datum | Frankfurt am Main, 1870-77 |
Material und Technik | Papier, Drucktechniken |
Maße | 30 x 42 cm |
Inventarnummer | SM 2022-02881,0473 |
Schlagworte | Kolonialismus, Druckgrafik, Krieg |
„Schlacht bei Weißenburg.“ , Frankfurt am Main, 1870-77
Der Bilderbogen „Die Schlacht bei Weißenburg“ zeigt eine Kriegsszene. Er ist visuell in einen Vorder- und Hintergrund unterteilt. In der oberen Bildhälfte ist die Darstellung eher skizzenhaft angelegt. Die untere Bildhälfte ist hingegen gut erkennbar und zieht die hauptsächliche Aufmerksamkeit auf sich.
Im linken unteren Bildbereich sind geordnet voranschreitende, einheitlich uniformierte Soldaten zu sehen. Von rechts kommen Soldaten zu Pferd, denen kriegsgefangene Männer in unterschiedlichen Uniformen vorangehen. Diese sind unbewaffnet und teils verletzt. Ganz vorne rechts liegen zwei verletzte Männer am Boden, ähnlich den vor den Reitern hergehenden Männern gekleidet.
Der obere Bildbereich wird von einem Berg dominiert, von dem Rauch aufsteigt und auf dem mehrere Gruppen von kämpfenden und auch verletzten Soldaten zu erkennen sind.
Der Bilderbogen zeigt eine Momentaufnahme aus dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71, und zwar die „Schlacht bei Weißenburg“ (franz.: Wissembourg) im Elsass am 4. August 1870, genauer den Moment der Erstürmung des nahe gelegenen Geisbergs durch deutsche Soldaten. Wissembourg war Grenzstadt zwischen der Bayerischen Pfalz und Frankreich. Die Schlacht endete mit einem Sieg der deutschen Seite.
Bildaufbau und Darstellungsweise erinnern an Schlachtendarstellungen der europäischen Grafik des 17. und 18. Jahrhunderts.
Im Deutsch-Französischen Krieg 1870/1871 standen sich der Norddeutsche Bund unter Führung Preußens zusammen mit mehreren süddeutschen Staaten und Frankreich unter Kaiser Napoléon III. (1808-1873) gegenüber. Der Krieg endete mit dem Sieg der deutschen Seite, führte zur Gründung des Deutschen Kaiserreichs sowie zum Ende des Zweiten Kaiserreichs in Frankreich.
Die Schlacht bei Weißenburg war eine der frühen Schlachten in diesem Krieg und der erste Sieg der Deutschen über Frankreich.
„Schlacht bei Weißenburg.“, Frankfurt am Main, 1870-77
Die im Bild-Vordergrund prominent dargestellten Kriegsgefangenen, die vor den berittenen deutschen Soldaten (Husaren) gehen bzw. abgeführt werden, sollen Soldaten der französischen „Armée d’Afrique“ repräsentieren, namentlich des „Corps des Zouaves“ und der „régiments des tirailleurs algériens“ (RTA). Auffällig sind ihre teils bunten und orientalisierenden Uniformen. Unter ihnen sind weiße wie auch BIPoC-Personen.
Tatsächlich war auf französischer Seite das 1. Regiment der „tirailleurs algériens“ als Teil der „Armée du Rhin“ an der Schlacht bei Weißenburg beteiligt. Gleiches gilt für das „Corps des Zouaves“.
Dass Mitglieder der „Armée d’Afrique“ als ein Sinnbild für den französischen Kriegsgegner abgebildet wurden, war ein wiederkehrendes Motiv in der deutschen Berichterstattung über den Deutsch-Französischen Krieg.
Frankreich blickt auf eine lange Geschichte als Kolonialmacht zurück, die im 17. Jahrhundert ihren Anfang nahm. Ab 1830 eignete sich Frankreich gewaltförmig verschiedene Gebiete auf dem afrikanischen Kontinent an, so ab 1830 Algerien. Algerien wurde zur Siedlungs-Kolonie für französische Einwander:innen, unter anderem ab 1871 aus dem deutsch gewordenen Elsass. Die einheimischen Bevölkerungen setzten sich von Anfang an mit verschiedenen Mitteln gegen die französische Kolonialmacht zur Wehr. Zeitgleich zum Deutsch-Französischen Krieg fand in Algerien ein großer Aufstand in der Kabylei statt, den Frankreich gewaltsam niederschlug. 1954 begann schließlich der Unabhängigkeitskrieg unter dem Front de Libération nationale (FLN), der 1962 mit der Unabhängigkeit Algeriens endete.
Mit der Eroberung Algeriens richtete Frankreich 1830 zunächst das „Corps des Zouaves“ als in Algerien situierte, unter französischer Oberhoheit stehende militärische Einheit auf. Befanden sich unter den Soldaten zunächst weiße Franzosen wie auch Mitglieder der einheimischen Bevölkerungen, letztere allerdings nicht in Führungspositionen, waren die „Zuaven“ ab 1842 fast ausnahmslos Weiße. Einheimische Rekruten der französischen Kolonialmacht wurden anderen Einheiten mit wechselnden Bezeichnungen zugeteilt, wobei auch hier die Führungsebene ausschließlich mit Weißen besetzt wurde. Ab 1853 hießen diese „régiments des tirailleurs algériens“ (RTA). Für sie kursierte auch die Bezeichnung „Turcos“.
Die Mitglieder des „Corps des Zouaves“ und der RTA trugen ähnliche Uniformen in orientalisierendem Stil. Diese beinhalteten unter anderem Pluderhosen, Bolerojäckchen und Kopfbedeckungen. Ein klares Unterscheidungsmerkmal war von 1853 bis 1914 die Farbe der Jacke. Bei den RTA war diese himmelblau mit gelben Borten, bei den „Zouaves“ dunkelblau.
Zunächst sah die französische Kolonialmacht den Einsatz der verschiedenen in Algerien formierten Militär-Einheiten nur auf dem afrikanischen Kontinent selbst vor. Diese sollten bei der Herrschaftsabsicherung und Ausweitung des französischen Einflussbereichs unterstützen. Allerdings wurden sie schließlich auch in anderen Regionen eingesetzt, so zum Beispiel im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71.
Paul Sinner (Fotograf), Verletzte RTA-Soldaten nach der Schlacht bei Woerth (die zwei Tage nach der Schlacht bei Weißenburg stattfand), 1870; „Schlacht bei Weißenburg.“, Frankfurt am Main, 1870-77
Im Deutsch-Französischen Krieg setzte Frankreich drei Regimente der RTA ein. Insgesamt handelt es sich um rund 9.000 Personen algerischer Herkunft, die für die französische Kolonialmacht gegen die verbündeten deutschen Staaten kämpften. Hinzu kamen noch rund 8.000 Angehörige des in Algerien aufgestellten „Corps des Zouaves“, unter denen sich auch BIPoC-Personen befanden.
Das französische Heer in seiner Gesamtheit umfasste zwar mehrere Hunderttausend Personen. Doch zogen die im Verhältnis gesehen numerisch wenigen in Algerien rekrutierten BIPoC-Soldaten überdurchschnittlich große Aufmerksamkeit innerhalb der deutschen Berichterstattung auf sich.
Dabei wurden die BIPoC-Soldaten vielfach kolonialrassistisch abgewertet und zugleich zum negativen Sinnbild der französischen Armee und damit Nation gemacht. Hierbei konnte die menschenverachtende Herabwürdigung der Soldaten aus Algerien nicht zuletzt als nationaler Kitt im Zuge der sich erst vollziehenden deutschen Einigung fungieren.
Grab von Mohammed Ben-Mansour (auf dem nach 1945 restaurierten Grab fälschlicherweise als Mohammed Ben Benzour bezeichnet) in Wissembourg, Frankreich; „Schlacht bei Weißenburg.“, Frankfurt am Main, 1870-77
Mohammed Ben Mansour (wohl geboren um 1840 in Algerien) war einer der algerischen Soldaten, die im Deutsch-Französischen Krieg auf der Seite Frankreichs gegen Deutschland kämpfte. Er gehörte der Militäreinheit der „régiments des tirailleurs algériens“ (RTA) an. Er wurde in der Schlacht bei Woerth am 6. August 1870 verletzt. Als deutscher Kriegsgefangener wurde er nach Weißenburg verbracht, wo er schließlich am 3. Februar 1871 an den Folgen seiner Verwundung starb. Sein Grab befindet sich auf dem Friedhof von Wissembourg.
Die weiße französische Feministin Hubertine Auclert (1848-1914) lebte von 1888 bis 1892 in der französischen Kolonie Algerien. Sie ist Autorin des Buches „Les femmes arabes en Algérie“, 1900 erschienen, für das sie viele Gespräche mit Menschen in Algerien führte, so mit Salah ben Abdalah. Im Kapitel „The Arab Soldier“ fasst sie zusammen, was er ihr von seinen Erfahrungen als algerischer Soldat in der französischen Armee berichtet hat,
1870 auf französischer Seite am Deutsch-Französischen Krieg beteiligt, wird er später gegen seinen Wunsch aus der Armee entlassen und erhält auch keine Entschädigung oder Rente.
Auclerts Blick auf ihren Gesprächspartner ist als kolonialrassistisch zu bewerten. Gleichzeitig ist die so dokumentierte Geschichte, in der Salah ben Abdalah teils selbst zu Wort kommt, ein eindrückliches Beispiel für die Diskriminierung und Nicht-Anerkennung von BIPoC-Soldaten in der französischen Armee, die noch lange fortdauern sollte.
Erst in den vergangenen rund 20 Jahren hat in Frankreich ein auch institutionalisierter Prozess der Anerkennung des Einsatzes der vielen Menschen aus den damaligen französischen Kolonien in von Frankreich geführten Kriegen begonnen, so auch der BIPoC-Kämpfenden im Deutsch-Französischen Krieg.
Arand, Tobias,1870/71. Die Geschichte des Deutsch-Französischen Krieges erzählt in Einzelschicksalen, Hamburg 2019.
Tombe du tirailleur algérien Mohamed Ben Mansour, https://archives.bas-rhin.fr/detail-monument-1870/460
Frank Becker, Fremde Soldaten in der Armee des Feindes. Deutsche Darstellungen der Französischen „Turko“-Truppen im Krieg 1870/71, in: Christian Geulen, Anne von der Heiden, Burkhard Liebsch (Hg.), Vom Sinn der Feindschaft, Berlin 2002, S. 167-181.
Kettlitz, Eberhardt, Afrikanische Soldaten aus deutscher Sicht seit 1871. Stereotype, Vorurteile, Feindbilder und Rassismus, Frankfurt am Main 2007.
Kniebühler, Niklas, Die Darstellung afrikanischer Kolonialsoldaten im deutsch-französischen Krieg 1870/71 in der „Freiburger Zeitung“, veröffentlicht auf freiburg-postkolonial.de am 06.01.2023 (https://www.freiburg-postkolonial.de/pdf/2023_Kniebuehler-1870-Freiburger-Lokalpresse-Kolonialsoldaten.pdf)
Menidjel, Razik, Les tirailleurs algériens, Paris 2007.
Dieser Bilderbogen zeigt kolonialrassistische Inhalte. Diese sind menschenverachtend und können für Schwarze Menschen, Indigene Menschen und People of Colour (BIPoC) verletzend und (re-)traumatisierend sein.
Die Reise um die Erde in achtzig Tagen. (Zweiter Bogen).” Nr. 543. Esslingen, nach 1877
Titel | „Die Reise um die Erde in achtzig Tagen. (Zweiter Bogen).“ Nr. 543. |
Sammlung | Bilderbogen |
Hersteller | Johann Ferdinand Schreiber (1809-1867) |
Herstellungsort und Datum | Esslingen, nach 1877 |
Material und Technik | Papier, Drucktechniken |
Maße | 36 x 43 cm |
Inventarnummer | SM 2022-02881,0347 |
Schlagworte | Druckgrafik, Kolonialismus, Exotismus, Orientalismus, Rassismus, Literatur |
Die Reise um die Erde in achtzig Tagen. (Zweiter Bogen).” Nr. 543. Esslingen, nach 1877
Unter dem Titel „Die Reise um die Erde in achtzig Tagen (zweiter Bogen)“ zeigt der Bilderbogen mehrere stereotypisierte Figuren bzw. Figurengruppen, die verschiedene Reisestationen aus der gleichnamigen literarischen Vorlage von Jules Verne von 1873 repräsentieren sollen. Teilweise sind sie beschriftet.
Im oberen Bereich sind fünf Personen zu sehen, die Federschmuck tragen und in dynamischen, kampfbereiten Posen mit Waffen wie Tomahawks, Speeren und Schilden dargestellt sind. Sie sind als "Indianer" bezeichnet. Im Zentrum ist eine Figurengruppe auf einem Elefanten abgebildet. Links und rechts des Elefanten steht je eine Figur, die mit der Bezeichnung „Volk“ versehen ist. Die linke Figur stellt eine Schwarze Person dar, die einen Schild und Speer in der Hand hält. Die rechts vom Elefanten stehende Person, ein bärtiger Mann, ist ebenfalls in kurzer Kleidung und mit einem Speer in der Hand ausgestattet. Rechts unten im Bild sind zwei Frauen, eine blond, eine dunkelhaarig, in tänzerischen Posen dargestellt. Beide Frauen unterscheiden sich von den restlichen Figuren darin, dass sie als weiße Personen dargestellt sind. Sie sind hier als "Bajedaren" bezeichnet.
Die Reise um die Erde in achtzig Tagen. (Zweiter Bogen).” Nr. 543. Esslingen, nach 1877
Es handelt sich um einen Bilderbogen mit Theaterfiguren für ein Papiertheater. Er war Teil einer Serie. Neben den Figuren konnten aus weiteren Bilderbogen derselben Theaterdekoration, Hintergrund- und Seitenkulissen ausgeschnitten, kaschiert und zu einem Miniaturtheater zusammengebaut werden. Die Figuren konnten, an Stäben befestigt, auf der Bühne bewegt und so bekannte Theaterstücke und Geschichten nachgespielt werden.
Ungeklärt bleiben muss an dieser Stelle die genaue Regieempfehlung für dieses Stück. Geräuschempfehlungen können sich im Textheft befunden haben. Dieses befindet sich nicht in der Sammlung des Stadtmuseum Berlin.
Der Bilderbogen „Die Reise um die Erde in 80 Tagen“ bezieht sich auf den gleichnamigen Roman des französischen Autors Jules Verne (1828-1905) aus dem Jahr 1873. Die Geschichte handelt von dem Engländer Phileas Fogg, der eine Wette abschließt, die Erde in achtzig Tagen zu umrunden. Die Reise führt ihn und seinen französischen Gefährten Passepartout von London per Zug nach Brindisi in Italien und weiter durch den Suezkanal nach Bombay (heute: Mumbai, Indien). Von dort geht es per Zug und auf einem Elefanten weiter nach Kalkutta (heute: Kolkata, Indien). Mit dem Dampfschiff reisen die Romanfiguren weiter nach Hongkong, Shanghai (China), Yokohama (Japan) und San Francisco (USA), von wo aus sie den nordamerikanischen Kontinent mit der Eisenbahn bis nach New York (USA) durchqueren. Per Dampfschiff geht es dann weiter nach Liverpool, bevor sie London (Vereinigtes Königreich) rechtzeitig per Zug erreichen.
Der Roman greift einige zeitgeschichtliche Phänomene und Ereignisse auf. So zum Beispiel das zunehmende Aufkommen der touristischen Dampfschifffahrt. Auch die Eröffnung des Suez-Kanals und die Fertigstellung der Ost-West-Eisenbahnverbindung durch den nordamerikanischen Kontinent jeweils 1869 sind Geschehnisse, die für das erfolgreiche Bestehen der Wette der Hauptfigur essenziell sind. Sowohl die Handlungs- als auch die Erzählgeschwindigkeit sind von einer Beschleunigung geprägt.
Neben dieser Darstellung des technischen Fortschritts in Vernes Roman ist auch augenfällig, dass die Handlungsorte wichtige Bezugspunkte der (britischen und englischsprachigen) Kolonialwelt sind. Die Darstellung der Personen ist durch Stereotype geprägt. Im Besonderen in den Darstellungen des ländlichen Lebens tauchen immer wieder orientalistische Klischees auf bzw. Stereotypisierungen der indigenen amerikanischen Bevölkerung, die jeweils mit Gefahr assoziiert werden. Auch das wiederum selbst mit dem Kolonialismus verknüpfte indische Kastensystem wird dem europäischen Publikum als besonderes Faszinosum mit amoralischen Praktiken beschrieben. Der weiße englische Gentleman wird dem gegenüber als moralisch tugendhaft, furchtlos und verlässlich beschrieben.
Hier trifft also der technische und ökonomische Fortschrittsoptimismus auf die koloniale Rechtfertigungsstrategie der civilizing mission.
In Bezug auf den vorliegenden Bilderbogen ist zudem bemerkenswert, wie hier europäisches koloniales Wissen über Landesgrenzen Verbreitung findet. Der Neuruppiner Bilderbogen greift eine Geschichte eines französischen Autors über einen englischen Gentleman auf.
Der Bilderbogen zeigt europäische Imaginationen der „Anderen“. Dieses Hervorheben des „Andersseins“ der dargestellten Figuren ist eine Form des Othering. Die hier präsentierten Figuren spiegeln kolonialrassistische, exotisierende und orientalistische Vorstellungen, die sich weiße Europäer:innen von Nicht-Europäer:innen machten und die teilweise bis heute im Umlauf sind und verteidigt werden.
Die Reise um die Erde in achtzig Tagen. (Zweiter Bogen).” Nr. 543. Esslingen, nach 1877
Indianer ist eine kolonialrassistische Fremdbezeichnung. Es waren Europäer:innen, die im Zuge der gewalttätigen Inbesitznahme von Land in den Amerikas ab Ende des 15. Jahrhunderts die dort bereits lebenden Menschen pauschal als I. bezeichneten. Dem lag nicht zuletzt die fälschliche Annahme zugrunde, es handele sich beim amerikanischen Kontinent um Indien, was wiederum synonym mit Asien verstanden wurde. Dass die, als I. bezeichneten Menschen um die 2.000 unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen mit je eigenen Sprachen und Kulturen angehörten, wurde dabei ignoriert.
In der Mehrheit der Populärkultur, die sich nicht zuletzt in Spielzeug und Spielen spiegelt, bezeichnet der Begriff I. keine realen Menschen, sondern meint vielmehr eine von weißen Europäer:innen erdachte Fantasiefigur, wie sie zum Beispiel auch in den Büchern des deutschen Autors Karl May (1842-1912) beschrieben wurde. I. sind hier naturnah und "wild", tragen Federschmuck und Farbbemalung im Gesicht und bilden einen Gegenpol zu einer ebenso konstruierten weißen Zivilisation.
Die Reise um die Erde in achtzig Tagen. (Zweiter Bogen).” Nr. 543. Esslingen, nach 1877
Europäer:innen des 18. und 19. Jahrhunderts verwendeten den Begriff der „Bajedaren“ als pauschales Synonym für „indische Tempeltänzerinnen“, die Projektionsfläche für exotisierende und sexuelle Fantasien waren. Verbreitung fand dieses Zerrbild unter anderem auch in europäischen musikalischen Bühnenstücken.
Auffällig ist hier zudem, dass die beiden Frauen als weiß dargestellt sind. Diese Praxis ist sowohl an dieser Stelle als auch im Kontext der Bühnenstücke als kulturelle Aneignung zu bezeichnen.
Die Reise um die Erde in achtzig Tagen. (Zweiter Bogen).” Nr. 543. Esslingen, nach 1877
Die Betitelung zweier Figuren im Bild, darunter eine Schwarze Person, als „Volk“ entmenschlicht diese. Die Namenslosigkeit dieser Protagonist:innen, symbolisiert das Überlegenheitsgefühl der weißen Bevölkerung und verleiht dieser einen höheren Wert.
Die Reise um die Erde in achtzig Tagen. (Zweiter Bogen).” Nr. 543. Esslingen, nach 1877
Der Elefant steht sinnbildlich für die angebliche Naturnähe der kolonisierten Gebiete. Er ist in der Geschichte in Bezug zur britischen Eisenbahn zu sehen, die die Kolonialmacht errichtet. Die Hauptfigur muss auf ihrer Reise auf einen Elefanten ausweichen, da die Mumbai-Kalkota-Eisenbahnlinie zwar kartografiert, jedoch nicht fertiggestellt wurde. Bei den Leser:innen des Romans und den Zuschauern des Papiertheaterstücks soll in diesem Moment also die Angst geweckt werden, dass der Held der Geschichte seine Wette nicht gewinnen kann – weil in Indien die als fortschrittlich dargestellte Eisenbahn durch die Kolonialmacht noch nicht nutzbar ist. Dadurch entsteht der Eindruck, dass Indien den Kolonialstaaten hinterherhängt. Der Kolonialismus findet hier also als angebliches Fortschrittsprojekt und civilizing mission seine Rechtfertigung.
Kontext
Buchcover "Antichristie" und Die Reise um die Erde in achtzig Tagen. (Zweiter Bogen).” Nr. 543. Esslingen, nach 1877
Indien ist ein zentraler Bezugspunkt für die Aufarbeitung der britischen Kolonialgeschichte und auch ein bedeutender Staat im Hinblick auf dekoloniale Befreiungsbewegungen. Die Rezeption der friedlichen antikoloniale Befreiungsbewegung und von Praktiken wie Yoga haben ihrerseits neue westliche Indienklischees geschaffen.
Die Autorin Mithu Sanyal skizziert in ihrem Roman „Antichristie“ derweil ein komplexeres Bild. Dieses beinhaltet unter anderem Zeitreisen, Geschlechterwechsel, eine antirassistischen Agatha-Christie-Verfilmung sowie die Geschichte des India Houses in London 1906. Hier treffen Gandhi und Vinayak Damodar Savarkar aufeinander, die verschiedene Wege zur Befreiung Indiens gehen wollen und auch über bewaffneten Widerstand nachdenken. Der Roman bietet wichtige Kontexte, die einer Vereinfachung des in Europa vielfach gängigen Indienbildes entgegenwirken können. So lernen die Leser:innen beispielsweise eine Reihe von Protagonist:innen kennen, zu denen sich in deutscher Sprache kaum Informationen finden lassen, obgleich sie wichtige Figuren der indischen Geschichte sind.
Rieder, John, Colonialism and the Emergence of Science Fiction, Middleton 2008. Eijking, Jan, Machine conquest: Jules Verne’s technocratic worldmaking, Cambridge 2024
Varshini, Amrita, around the world in 80 days: colonial culture
Dieser Bilderbogen zeigt kolonialrassistische Inhalte. Diese sind menschenverachtend und können für Schwarze Menschen, Indigene Menschen und People of Colour (BIPoC) verletzend und (re-)traumatisierend sein.
Drei Bildergeschichten “Sindbad der Seefahrer und der Vogel Roch.", "Tsching-Fu und Li." und "Ebn Aizar, der Geisterkönig.". Nr. 9895. Neuruppin, 1850-1925
Titel | Drei Bildergeschichten „Sindbad der Seefahrer und der Vogel Roch.“, „Tsching-Fu und Li.“ und „Ebn Aizar, der Geisterkönig.“. Nr. 9895. |
Sammlung | Bilderbogen |
Hersteller | Druck und Verlag von Gustav Kühn in Neuruppin |
Herstellerort und Datum | Neuruppin, 1850-1925 |
Material und Technik | Papier, Drucktechniken |
Maße | 42 x 34 cm |
Inventarnummer | SM 2022-02881,0296 |
Schlagworte | Rassismus, Kolonialismus, Druckgrafik, Orientalismus |
Drei Bildergeschichten “Sindbad der Seefahrer und der Vogel Roch.", "Tsching-Fu und Li." und "Ebn Aizar, der Geisterkönig.". Nr. 9895. Neuruppin, 1850-1925
Der Bilderbogen zeigt drei Geschichten aus „Tausendundeiner Nacht“ (original „Alf layla wa-layla“). Im Folgenden wird nur auf eine der drei, und zwar auf „Sindbad der Seefahrer und der Vogel Roch“, eingegangen.
Jeder Bildrahmen zeigt einen einzelnen Höhepunkt der Geschichte. Die erste Szene zeigt Sindbad den Seefahrer, dargestellt als weiße Person mit Turban, der sich an einen großen Vogel gebunden hat und so von einer einsamen Insel entkommen ist. Die zweite Szene zeigt die Kulisse eines Bergtals, in dem Sindbad neben einem toten Lamm steht. Dem Text zufolge haben die Bewohnenden des Tals das Lamm mit Absicht in das „Diamanttal“ geworfen, um die Edelsteine zu bergen, die in dem Fell hängen bleiben.
In der nächsten Szene sind die Bewohner des Tals als weiße Männer mit der Kopfbedeckung Fez dargestellt. Sie zerlegen den Vogel Roch mit Hammer und Holzplatten. Gemäß der Erzählung lässt sich Sindbad erneut von einem Vogel tragen und gelangt so zur Bergspitze, wo er begrüßt wird und eine „Tasche voll Diamanten“ mitnehmen darf. Die letzte Szene zeigt, wie Sindbad ein Schiff verlässt. Neben der Schiffstreppe stehen zwei Fässer und zwei weitere weiße Personen mit Turban. Im Vordergrund befinden sich zwei Schwarze Männer mit Fez, die die Koffer von Sindbad zu tragen scheinen.
Drei Bildergeschichten “Sindbad der Seefahrer und der Vogel Roch.", "Tsching-Fu und Li." und "Ebn Aizar, der Geisterkönig.". Nr. 9895. Neuruppin, 1850-1925
Sindbad der Seefahrer ist in Europa eine der berühmtesten Figuren aus „Tausendundeiner Nacht“ und wird in westlichen Adaptionen und Darstellungen oft als weiße Person dargestellt, obwohl die Reisen in Bagdad (heutiges Irak) beginnen und enden. Diese Praxis des Whitewashings, sprich: BIPoC-Personen zu weißen Personen umzudefinieren, geht bei den Adaptionen einher mit einer Infantilisierung der Geschichten für den europäischen Markt. Die oftmals drastischen und herausfordernden Geschichten für Erwachsene werden hierbei in einer Tradition der europäischen Kinder- und Hausmärchen radikal entschärft. Als Gegenspieler zum weißen, cleveren Sindbad zeigen die Abbildungen „Leute“, die zwar auch als Weiße dargestellt sind, zugleich aber mit orientalistischen Klischees besetzt werden: brutale und gierige Personen, die sich in einer Welt voller mythischer Tiere und scheinbar unendlicher ausbeutbarer Schätze befinden.
Drei Bildergeschichten “Sindbad der Seefahrer und der Vogel Roch.", "Tsching-Fu und Li." und "Ebn Aizar, der Geisterkönig.". Nr. 9895. Neuruppin, 1850-1925
Das abschließende Bild der Sindbad-Geschichte zeigt eine Hafenszene. Sindbad verlässt ein Schiff mit einem Koffer, nachdem er die Diamanten erhalten hat. In diesem Bild sind auch zwei Schwarze Figuren zu sehen, die einen Koffer tragen. Es wirkt, als würden sie dies für Sindbad tun. An dieser Stelle greift die Abbildung auf rassistische Bildsprache zurück, die hier zum einen Schwarze Männer mit überzeichneten Merkmalen darstellt und diese zum anderen in die untergeordnete Passivität verweist. Der weiße Sindbad selbst wird hier auch noch einmal als Held der Geschichte in den hellen Bildmittelpunkt gesetzt, und sein hinzugewonnener Reichtum erscheint dadurch als legitim.
„Tausendundeine Nacht“ (original „Alf layla wa-layla“) ist eine Sammlung von Erzählungen aus dem arabischen, persischen und indischen Raum, die seit Jahrhunderten überliefert und in verschiedenen Fassungen und Sprachen verbreitet wurde. Die ältesten Geschichten stammen aus dem 9. Jahrhundert, aber die Sammlung wurde über Jahrhunderte weiter ausgebaut.
In Europa wurden die Geschichten aus „Tausendundeiner Nacht“ seit Antoine Gallands Übersetzungen ins Französische (1704-1717) populär. Bei einigen der in Europa verbreitetsten Geschichten geht die Wissenschaft heute davon aus, dass sie kein Teil des originalen Kanons waren und womöglich sogar erst in der Zeit von Gallands Reisen in den arabischen Raum und nach Nordafrika als Auftragswerke für den Markt entstanden. Dazu zählen beispielsweise „Aladdin und die Wunderlampe“ und „Ali Baba und die vierzig Räuber“. Auch die Geschichte von Sindbad taucht in frühen arabischen Quellen nicht auf.
Rezipiert wurden und werden die Geschichten vielseitig. Zum einen haben sich im Westen stark gekürzte und entschärfte Versionen durchgesetzt, die auf die Schilderungen von expliziter Gewalt, Sexualität und Sprache verzichten. Diese Märchenwerdung der Geschichten symbolisiert einen scheinbaren minderen Wert der arabischen Geschichten und ordnet diese gleichzeitig in ein europäisches Konzept der Unterhaltungsliteratur ein. Diese Werke wurde lange Zeit als minderwertig gegenüber vorgeblich hochkulturellen Werken dargestellt.
Parallel dazu fand und findet eine globale Aufbereitung der Geschichten für den Markt statt. So existieren beispielsweise im 20. Jahrhundert Sindbad-Verfilmungen in Indien, Japan oder den USA. Auch der hier vorliegende Bilderbogen ist ein Beispiel für die Ökonomisierung der arabischen Ursprungstexte.
Diyāb's manuscript autobiography in digital facsimil und Drei Bildergeschichten “Sindbad der Seefahrer und der Vogel Roch.", "Tsching-Fu und Li." und "Ebn Aizar, der Geisterkönig.". Nr. 9895. Neuruppin, 1850-1925
Heute zählen die Geschichten aus „Tausendundeiner Nacht“ zum Kanon der Weltliteratur, deren Autorenschaft auf indische, persische und arabische Quellen zurückzuführen ist, oftmals jedoch anonym bleibt. In Europa haben sich mit Antoine Gallands Übertragung ins Französische auch Geschichten etabliert, die nicht zur ursprünglichen Sammlung gehörten, insbesondere “Ali Baba und die vierzig Räuber” und “Aladdin und die Wunderlampe”.
Der Autor, der hinter diesen beiden Geschichten steht, ist der Syrer Hanna Diyab (circa 1688- nach 1763), dessen Tagebücher in den 1990er Jahren im Vatikan entdeckt wurden.
Hanna Diyab verfasste ein Reisetagebuch über seine Paris-Reise, das einen interessanten außereuropäischen Blick auf Paris zu der Zeit Ludwig XIV. bietet. In Gallands Tagebüchern findet Diyab währenddessen kaum Erwähnung.
Heutige Literaturwissenschaftler:innen fordern die Autorenschaft Hanna Diyabs anzuerkennen und seinen Beitrag zur Popularisierung der arabischen Geschichtstradition stärker in den Mittelpunkt zu stellen.
Makdisi, Saree / Nussbaum, Felicity, The Arabian Nights in Historical Context: Between East and West, Oxford 2008.
Ogette, Tupoka, Exit Racism. Rassismuskritisch denken lernen, Münster 2019.
Ott, Claudia, Tausendundeine Nacht Nach der ältesten arabischen Handschrift in der Ausgabe von Muhsin Mahdi, München 2011.
Said, Edward W., Orientalism, UK 1978.
Dieser Bilderbogen zeigt kolonialrassistische Inhalte. Diese sind menschenverachtend und können für Schwarze Menschen, Indigene Menschen und People of Colour (BIPoC) verletzend und (re-)traumatisierend sein.
„Neues geographisches Würfelspiel für die Jugend.“ Nürnberg, 1783-1848
Titel | „Neues geographisches Würfelspiel für die Jugend.“ |
Sammlung | Bilderbogen |
Hersteller | J. G. Klinger's Kunsthandlung |
Herstellungsort und Datum | Nürnberg, 1783-1848 |
Material und Technik | Papier, Drucktechniken |
Maße | 34 x 42 cm |
Inventarnummer | SM 2022-02881,0400 |
Schlagworte | Rassismus, Kolonialismus, Druckgrafik, Nationalismus, Spiel, Würfelspiel |
„Neues geographisches Würfelspiel für die Jugend.“ Nürnberg, 1783-1848
Der zwischen 1783 und 1848 entstandene Bilderbogen „Neues geographisches Würfelspiel für die Jugend.“ stellt ein Würfel- und Glücksspiel dar.
Der Bilderbogen ist teilweise koloriert und gliedert sich in den Spielplan, den Titel des Spiels und die Spielregeln.
Im Zentrum des Spielfeldes steht ein Mann in einer Landschaft, der als „Deutscher“ bezeichnet wird. Er trägt einen Gehrock und stützt sich mit seiner linken Hand auf den Spazierstock, die rechte Hand hat er in die Hüfte gestemmt. Im Hintergrund ist eine Berglandschaft mit See zu erkennen. Auf dem See fährt ein Segelschiff. Leicht versetzt hinter dem Mann steht eine Eiche. Über dem Mann sind Würfel dargestellt, die jeweils die Augenzahl sechs zeigen. Unter ihm steht die Beschriftung „Deutscher gewinnt Alles.“
Die weiteren Figuren auf dem Spielbrett sind im Uhrzeigersinn von oben links wie folgt beschriftet:
Australier, Peruaner, Floridaner, Grönländer, H., N., Ägypter, Marokkaner, Franzose, Engländer, Chinese, Kamtschadale, Indier, Chineser, Perser, Türke, Italiäner, Portugiese, Pohle, Russe.
Alle Personen sind mit männlichen Attributen ausgestattet.
In den Ecken des Bilderbogens ist je eine Personengruppe, eingebettet in eine Landschaft, dargestellt. Diese Szenen sind nicht coloriert.
Oben rechts sind drei Personen sitzend in einer Landschaft mit Palmen dargestellt, im Hintergrund steht ein Pferd. Sie tragen Turbane, lange Gewänder, und eine Person hält einen Speer.
In der rechten unteren Ecke wird eine Person in einer Steppenlandschaft mit Kakteen gezeigt, im Hintergrund stehen ein Baum und zwei weitere Personen. Die zentrale Figur der Szene trägt einen "Lendenschurz" und Knieschützer, in den Händen hält sie Speer und Schild
Unten links werden zwei Figuren vor einer Landschaft mit Palmen und einer Hütte gezeigt. Die zentrale Figur trägt "Lendenschurz" und Halsschmuck, sie hält einen Bogen in der Hand. Daneben sitzt eine Person, ebenfalls mit "Lendenschurz".
In der linken oberen Ecke werden drei Figuren vor einer Landschaft mit Palmen und Bäumen gezeigt. Eine Figur sitzt in einem Schneidersitz und trägt einen Turban. Die Person dahinter hält einen Schirm. Daneben wird eine Person mit Turban und Gewand gezeigt, die die Hände in die Luft streckt und zu tanzen scheint
Unterhalb der Abbildungen befindet sich der Titel des Spiels: „Neues geographisches Würfelspiel für die Jugend“ sowie die Spielregeln.
Das Spiel funktioniert durch das Würfeln zweier Würfel. Durch das Würfeln landet man auf einem mit Ort auf dem Spielbrett, auf dem verzeichnet ist, ob Spielmarken gezahlt werden müssen oder ob sie in die eigene Kasse gehen. Sieger:in ist, wer die meisten Marken erhalten hat. Beim Würfeln zweier Sechsen landen die Spieler:innen auf dem Feld “Deutscher”. In dem Moment ist man Sieger.
Alle Figuren auf dem Spielbrett sind durch klischeehafte Darstellungen geprägt. Hierbei spielen Farben, Kleidung und Accessoires eine bedeutende Rolle.
„Neues geographisches Würfelspiel für die Jugend.“ Nürnberg, 1783-1848
Nur die als „Deutscher“ benannte Figur ist in einer Landschaft verortet. Hier wird einerseits auf die Geschichte eingegangen, indem eine kolorierte Burg im Hintergrund zu sehen ist, andererseits auf die Natur durch die Eiche und die Flusslandschaft. Auch wirkt der "Deutsche" mit seinem Wanderstock aktiver als die anderen Dargestellten. Die Art und Weise der Darstellung und Verortung der Figur ist von typischen Motiven der Epoche der Romantik geprägt. Die Betitelung der Figur als „Deutscher“ mehrere Jahrzehnte vor der Gründung des Deutschen Reichs 1871 verweist auf den Nationalismus des "Vormärz". Verstärkt wird dies auch durch die Spielregeln, denn die Person, die zwei Sechsen würfelt, hat das Spiel gewonnen: „Deutscher gewinnt alles“.
„Neues geographisches Würfelspiel für die Jugend.“ Nürnberg, 1783-1848
Die als „Russe“ bezeichnete Figur wird stereotyp zugespitzt im Grün der Zaren dargestellt, die Figur „Engländer“ als Gentleman im langen Mantel.
Einige der Figuren repräsentieren nicht nur nationale oder gruppenbezogene Klischees, sondern sind auch rassistisch überzeichnet.
„Neues geographisches Würfelspiel für die Jugend.“ Nürnberg, 1783-1848
Die mit dem N-Wort bezeichnete Figur ist leicht bekleidet und koloriert. Hier findet sowohl auf sprachlicher als auch auf bildlicher Ebene eine Entmenschlichung statt, da auf jegliche kulturelle Bezüge verzichtet wird. Während sich andere Figuren geografisch lokalisieren lassen, scheint diese Figur als Stellvertreter für den ganzen Kontinent Afrika zu stehen.
Die als Hottentotte bezeichnete Figur wird mit einem Speer dargestellt, was eine angebliche Naturnähe symbolisieren soll.
Hottentotte ist eine rassistisches Bezeichnung, die die niederländische Kolonialmacht im 17. Jahrhundert prägte. Hierunter wurden verschiedene Bevölkerungsgruppen im südlichen Afrika subsumiert.
Bis heute ist der Begriff in der deutschen Alltagssprache trotz seines kolonialrassistischen Kontexts präsent und steht hier für Unordnung und Unzivilisiertheit.
Begräbnisstätte Sarah Baartman und „Neues geographisches Würfelspiel für die Jugend.“ Nürnberg, 1783-1848
Die Südafrikanerin Sarah Baartman wurde Anfang des 19. Jahrhunderts nach Europa verschleppt und dort als „Hottentotten-Venus“ in menschenunwürdigen Zurschaustellungen präsentiert.
Europäisches Publikum bezahlte, um ihren Körper zu betrachten, der als vermeintlicher Beweis für die „Andersartigkeit“ afrikanischer Menschen galt. Unter dem Deckmantel der Wissenschaft wurde Baartman zum Objekt degradiert, an dem europäische Forscher:innen ihre pseudowissenschaftlichen rassistischen Theorien demonstrierten.
Nach ihrem Tod 1815 setzte sich die Entmenschlichung fort: Ihr Körper wurde seziert, Teile davon präpariert und bis 1974 im Pariser Museum für Naturgeschichte ausgestellt. Erst 2002 wurden ihre sterblichen Überreste nach Südafrika überführt und würdevoll bestattet. Ihre Begräbnisstätte ist heute ein Ort des nationalen Kulturerbes in Südafrika.
Arndt, Susan/Ofuatey-Alazard, Nadja, Wie Rassismus aus Wörtern spricht, Münster, 2021. Twala, Phumzile Nombuso, The Repatriation of Sara Baartman, 2025.
Dieser Bilderbogen zeigt kolonialrassistische Inhalte. Diese sind menschenverachtend und können für Schwarze Menschen, Indigene Menschen und People of Colour (BIPoC) verletzend und (re-)traumatisierend sein.
„Im schwarzen Wallfisch zu Askalon.“ Neuruppin, um 1870
Titel | „Im schwarzen Wallfisch zu Askalon.“ |
Sammlung | Bilderbogen |
Hersteller | Druck und Verlag Gustav Kühn |
Herstellungsort und Datum | Neuruppin, um 1870 |
Material und Technik | Papier, Drucktechniken |
Maße | 41 x 34 cm |
Inventarnummer | SM 2022-02881,0037 |
Der Bilderbogen zeigt in drei aufeinanderfolgenden Bildern Szenen aus dem Trinklied „Im schwarzen Wallfisch zu Askalon“. Erzählt wird die Geschichte eines Mannes, der in einem Wirtshaus maßlos trinkt, seine Rechnung nicht bezahlen kann und schließlich hinausgeworfen wird. Die Darstellung ist humorvoll überzeichnet, zugleich aber stark geprägt von kolonialen und rassistischen Klischees des 19. Jahrhunderts.
In der ersten Szene lehnt ein weißer Mann an einer Säule, über ihn ein roter Schirm. Er wirkt bereits betrunken und nippt an einem Glas. Neben ihm steht ein Kellner, der ihm „Baktrer Schnaps“ nachschenkt. Der Raum ist reich mit Trinkgefäßen und Fässern gefüllt, und die Architektur erweckt den Eindruck von „Fremdheit“. Hinter dem Mann an der Säule sitzt eine Katze. Die Szene betont den Exzess und die „Fremdartigkeit“ des Ortes.
„Im schwarzen Wallfisch zu Askalon.“ Neuruppin, um 1870
Die zweite Szene zeigt eine groteske Form der Abrechnung. Mehrere Personen bringen dem Mann die Rechnung – nicht auf Papier, sondern auf sechs großen Tontafeln, beschrieben mit stilisierter Keilschrift. Der Gast hebt ratlos seine Hände um zu zeigen, dass er kein Geld hat. Der Text darunter erläutert, dass er sein Geld schon im „Lamm zu Niniveß“ ausgegeben habe.
Die letzte Szene zeigt den Wendepunkt: Ein „Hausknecht“ in bunter Kleidung – als „aus Nubierland“ kommend bezeichnet – packt den Gast und wirft ihn rabiat hinaus. Der Wirt steht währenddessen scheinbar ratlos mit einem Schirm in der Hand im Lokal.
„Im schwarzen Wallfisch zu Askalon.“ Neuruppin, um 1870
Der Bilderbogen „Im schwarzen Wallfisch zu Askalon“ verwendet die Form eines humorvollen Trinklieds, um eine satirische Geschichte zu erzählen. Was auf den ersten Blick wie ein komischer Kneipenbesuch erscheint, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als eine Sammlung kultureller Stereotype, die aus heutiger Sicht kritisch zu hinterfragen sind.
Die Handlung ist einfach: Ein Gast trinkt über drei Tage hinweg, weigert sich zu zahlen, wird zur Rechenschaft gezogen und am Ende vor die Tür gesetzt. Dabei dient das Wirtshaus – mit dem fiktiven Namen „Zum schwarzen Walfisch“ – als Kulisse für eine überzeichnete „Fremde“. Ort, Personal und Ausstattung folgen keiner konkreten geografischen Realität, sondern entspringen einer orientalistischen Vorstellung des 19. Jahrhunderts. Diese Inszenierung basiert nicht auf Wissen über andere Kulturen, sondern auf Projektionen: fremd wirkende Architektur, Schriftzeichen, Kleidung und Personen erzeugen ein Bild, das das "Andere" als komisch, rückständig oder kurios erscheinen lässt. Dies zeigt sich etwa in der Verwendung der Keilschrifttafeln als Rechnung.
Auch der Name des Ortes, „Im Schwarzer Walfisch zu Askalon“ ist interessant. Es handelt sich auf eine bewusste Anspielung auf die biblische Stadt Askalon, die in den Prophetenbüchern als Ort göttlichen Gerichts verurteilt wird. Das Wirtshaus wird so zum Spiegel einer „fremden Welt", in der die bürgerliche Moral außer Kraft zu sein scheinen.
„Im schwarzen Wallfisch zu Askalon.“ Neuruppin, um 1870
Insbesondere die Darstellung des kräftigen Hausknechts „aus Nubierland“, der den Gast hinauswirft, folgt festen Rollenzuschreibungen. Diese Darstellung steht im Zusammenhang mit verbreiteten europäischen Bildern Schwarzer Menschen im 19. Jahrhundert, die sie oft auf körperliche Arbeit, Exotik oder Dienstbarkeiten reduzierten.
Der Hausknecht bedient stereotype Rollenbilder: Er erscheint als starker, wortlos handelnder und gewaltbereiter Helfer, dessen Herkunft und Aussehen seine Funktion zusätzlich markieren sollen. Verstärkend wirkt dabei auch, dass diese Zuschreibungen für den Verlauf der Geschichte gar nicht benötigt werden. Ein nicht zahlender Gast, könnte in der humoristischen Absicht des Bilderbogens und des Liedtextes auch von jeder anderen Person rausgeschmissen werden.
Kontext
„Im schwarzen Wallfisch zu Askalon.“ Neuruppin, um 1870
Nubien ist ein Gebiet, das sich auf Gebiete im heutigen Ägypten und Sudan verteilt. Historisch ist das Reich durch wechselhaften Beziehungen eng mit dem antiken Ägypten verbunden. So wurde Ägypten beispielsweise um 700 v. Chr. von Nubien erobert. Diese Phase ist auch als Reich von Kusch bekannt. Kusch ist der ägyptische Name für Nubien.
In dieser Phase regierten die „Schwarzen Pharaonen“ der 25. Dynastie im 8. bis 7. Jahrhundert v. Chr. über Ägypten und zeigen, wie eng Nubien und Ägypten damals verflochten waren. In Kerma (heutiger Sudan) offenbarten Grabungen auf dem Gräberfeld „Cemetery L“ monumentale Tongefäße, Goldschmuck und kunstvolle Bestattungsbeigaben, die die frühnubische Gesellschaft als Handels- und Kulturbündnis belegen.
Dieses Erbe findet heute eine lebendige Resonanz: So wird das das nubische Erbe im International Museum of Nubia in Aswan (Ägypten) als gemeinsames kontinentales Erbe präsentiert.
Auch im Nationalmusuem des Sudan in Karthum wurde eine Dauerausstellungen eingerichtet. Dieses wurde jedoch im seit 2023 andauernden Bürgerkrieg, zerstört. Schätzungen von gehen davon aus, dass 80-90% des beherbergten Kulturguts geraubt oder zerstört wurden.
Morkot, Robert G., The Black Pharaohs: Egypt's Nubian Rulers, London, 1996. Zaugg, Franziska, Nationalmuseum von Plünderern zerstört – Artefakte verschwunden, 2025.
Schwarz und weiß sind keine Hautfarben, sondern beschreiben die Position von Menschen in einer durch Rassismus geprägten Gesellschaft als diskriminiert oder privilegiert. Schwarz ist die Selbstbezeichnung von Schwarzen Menschen und betont durch das groß geschriebene „S“ Selbstbewusstsein und Widerstand. Weiß beschreibt eine dominante Position, die meist nicht hinterfragt wird.
„Die Abkürzung ‘B(I)PoC’ ist ein Begriff, der sich auf Schwarze, Indigene und People of Color bezieht. Mit dem Begriff sollen explizit Schwarze und indigene Identitäten sichtbar gemacht werden, um Antischwarzem Rassismus und der Unsichtbarkeit indigener Gemeinschaften entgegenzuwirken. Der Begriff soll die spezifische Gewalt, kulturelle Auslöschung und Diskriminierung hervorheben, die Schwarze und indigene Menschen erfahren. Außerdem versucht er die oben genannten Communities zu vereinen. Trotzdem soll die Tatsache unterstrichen werden, dass nicht alle People of Color die gleichen Erfahrungen machen, insbesondere wenn es um systemische Unterdrückung geht. Der Begriff ist politisch, weil er selbstdefinierend und ermächtigend ist. Die Bezeichnung wird sowohl auf aktivistische als auch auf wissenschaftliche Weise verwendet.“ Quelle
Zum N-Wort
Das N-Wort ist ein kolonial-rassistischer Begriff für Schwarze Menschen. Im Sprachgebrauch findet er sich noch als N-Kuss, vor allem aber als Alltagsbeleidigung. In (Kinder-)Literatur kommt er beispielsweise als N-Sklave oder N-König vor, wie in (älteren) Auflagen von Astrid Lindgrens Büchern. Die Abkürzung N-Wort dient dazu, den rassistischen Begriff nicht zu reproduzieren. Der Begriff sollte nicht ausgesprochen oder ausgeschrieben werden, da er nie neutral gemeint war, sondern in Rassentheorien sowie der Versklavung Schwarzer Menschen verwurzelt ist und Schwarze entwürdigt.
Zum M-Wort
Das M-Wort ist ein rassistischer Begriff, mit dem Schwarze Menschen abgewertet werden.
Er leitet sich vom altgriechischen Wort „mauros“ ab, das übersetzt „schwarz“, „geschwärzt“ oder „verkohlt“ bedeutet. Auch wenn das M-Wort im Laufe der Geschichte verschiedene Bedeutungsverschiebungen erfahren hat und sich im Wandel der Zeit auf wechselnde Personengruppen und geographische Räume beziehen konnte, so blieb eines gleich: Der Begriff war immer abwertend gegenüber dem:der „Anderen“ gemeint, der:die nicht weiß war.
Im Deutschen ist das M-Wort die älteste Bezeichnung, mit der weiße Menschen Schwarze Menschen markiert haben. Vom 17. bis 19. Jahrhundert bezeichneten deutschsprachige weiße Menschen diejenigen BIPoC-Personen als M., die von Europäer:innen versklavt und verschleppt wurden und fortan für Adelige und auch zunehmend reiche Vertreter:innen des Bürgertums innerhalb des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation arbeiten mussten.
Mit dem M-Wort war und ist zugleich die rassistische Vorstellung verknüpft, dass als solche markierte Personen zum Dienen geboren seien, was sich seit der Frühen Neuzeit an zahlreichen bildlichen und textlichen Darstellungen ablesen lässt.
Das M-Wort ist trotz seines rassistischen Gehalts weiterhin in städtischen Räumen bundesweit präsent.
Für ein besseres Verständnis von Begriffen, die in den Texten in der Website-Präsentation Verwendung finden, so zum Beispiel „Orientalismus“ / „orientalisierend“, „Exotismus“ / „exotisierend“ oder „Othering“ empfiehlt das Projekt-Team folgende online verfügbaren Glossare:
https://www.ikud-seminare.de/glossar
https://neuemedienmacher.de/glossar/
https://diversity-arts-culture.berlin/en/diversity-arts-culture/dictionary
Die Online-Präsentation des digiS-Projektes „Massenmedium Bilderbogen“ wird veröffentlicht von:
Stiftung Stadtmuseum Berlin Landesmuseum für Kultur und Geschichte Berlins
An diesem Projekt waren viele Menschen innerhalb und außerhalb des Stadtmuseums Berlin beteiligt und haben mit ihren unterschiedlichen Expertisen und Perspektiven zu dessen Gelingen beigetragen. Die im Projekt entstandenen Ergebnisse betrachten die Projektverantwortlichen als das kollaborative Produkt Vieler.
Projektverantwortliche | Lorraine Bluche
Randy-Noreen Rathenow
Lukas Seidel |
Visuelle und technische Konzeption,
Planung und Gestaltung | Visual Intelligence
Danielle Rosales
Robin Coenen
Miriam Seith
Alisa Verzhbitskaya |
Projektbeteiligte | Michalina Cieslicki
Purevsuren Felber
Melanie Huber
Dorin Ionita
Constantijn Leliveld
Bärbel Reißmann
Henry Schäfer
Robert Wein
Sabine Weller
Fee Wüstenberg |
Projektpartner | |
Besonderer Dank an | Larissa Förster
Hajo Frölich
Manfred Gräfe
Elina Miagkovaite
Kimiko Suda
Konrad Vanja
Joachim Zeller |
Gefördert durch | Förderprojekt DigiS 2024 der Senatsverwaltung für Kultur und gesellschaftlichen Zusammenhalt |